# taz.de -- Performativer Spaziergang in Berlin: Bilder und Geschichten teilen | |
> Das Theaterstück „Häuser-Fluchten“ erzählt von NS-Verfolgten und | |
> Widerstandskämpfenden in Berlin. Das Publikum ist dabei in Bewegung. | |
Bild: Wer darf hier rein? Das Ensemble der Spreeagent*innen vor der Sophienkirc… | |
„[1][Gedenktafeln] gibt es vor jeder Volksbühne“, sagt Richard Gonlag, und | |
das Echo seiner Stimme hallt über den Rosa-Luxemburg-Platz. Im Foyer der | |
Berliner Volksbühne wird der Tänzerin und NS-Widerstandskämpferin [2][Oda | |
Schottmüller] gedacht, die 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde. | |
Mit Auszügen aus ihrer Biografie beginnt „Häuser-Fluchten“, die Fassade d… | |
Volksbühne wird von der Sonne in ein warmes Licht getaucht. Mehr als drei | |
Stunden später schließt das Theaterstück im Hinterhof der Neuen Synagoge in | |
der Oranienburger Straße. Auch hier wird eine Wand angestrahlt, jetzt | |
jedoch mit künstlichem Licht, es ist dunkel geworden. | |
Ein Sommerabend, der mit Zettelwirtschaft – Corona-Kontaktformular, | |
Eintrittskarte, Lageplan und Programmheft – ein wenig kompliziert inmitten | |
des Großstadttrubels in Berlin-Mitte beginnt, endet andächtig an einem Ort, | |
der erst nach einem Sicherheits-Check zugänglich ist. Das Publikum von | |
zuvor aus 50 unterschiedlichen Berliner Alltagen zusammengekommenen | |
Menschen steht nun trotz der Abstandsregeln merklich dichter beieinander. | |
Das Stück der Berliner Theatergruppe spreeagenten hat Nähe kreiert. Geteilt | |
werden Bilder und Geschichten im Kopf. | |
In einem Spaziergang mit Audiospur und Live-Zwischenspielen dokumentieren | |
die Schauspieler*innen Jelena Bosanac, Richard Gonlag, Željko Marović und | |
die Sängerin und Cellistin Daniela Lunelli zahlreiche Biografien von | |
NS-Verfolgten und Widerstandskämpfer*innen, die im Scheunenviertel gelebt | |
haben, darunter bekannte Stimmen, aber auch persönliche Geschichten von | |
weniger bekannten Menschen. Während auf einem Waldorfschulhof parallel | |
lautstark ein ambitioniertes Freizeitfußballspiel ausgetragen wird, werden | |
ein paar Meter weiter durch performative Erzählungen, Gesang und mit | |
wenigen Requisiten Erinnerungen an jüdische Geschäfte des Viertels | |
lebendig. | |
Eine traditionsreiche koschere Weinhandlung – „Kauft nicht bei Juden“ – | |
wird aus dem Handelsregister gestrichen, eine Katze vergiftet: „Eines der | |
Gesetze, die die Deutschen erfunden haben, war: Juden dürfen keine | |
Haustiere halten. Wir hatten eine Katze, und als Einzelkind war das mein | |
einziger Freund.“ Der 1925 geborene Jürgen Löwenstein besuchte im | |
Scheunenviertel die Knabenmittelschule. Diese lag in der Großen Hamburger | |
Straße, die auch Toleranzstraße genannt wurde, denn in unmittelbarer Nähe | |
waren hier jüdische, katholische und evangelische Institutionen in | |
friedlicher Koexistenz ansässig. | |
## Theater an Nicht-Theater-Orten | |
Die Berliner Theatergruppe spreeagenten machen die Erinnerungen des | |
Auschwitz-Überlebenden schlaglichtartig erlebbar. Eindrücklich erinnert | |
„Häuser-Fluchten“ auf diese Weise an die [3][Wichtigkeit von | |
Zeitzeug*innenberichten] und regt zum späteren Nachlesen an. | |
Coronabedingt sind die Spielorte des Stücks, in Hinterhöfen unter Bäumen | |
oder vor der Sophienkirche, nicht. Als das Konzept 2018 entstanden ist, war | |
die Pandemie nicht in Sicht. „Corona hat unsere [4][Arbeit natürlich | |
verändert], aber das Stück war immer als Spaziergang im Viertel geplant“, | |
sagt spreeagenten-Gründerin und Regisseurin des Stücks Susanne Chrudina. | |
Theaterstücke an Nicht-Theater-Orten sind das Metier der Berliner Gruppe. | |
Gegründet haben sich die spreeagenten 2007. Ihr letztes Musiktheaterstück | |
beschäftigte sich ebenfalls mit der NS-Zeit und erzählte vom | |
Mädchenorchester von Auschwitz. | |
Chrudina lebt selbst seit über zwanzig Jahren in dem Viertel, das vor | |
hundert Jahren von einer anderen Vielseitigkeit geprägt war: „Ich finde die | |
Reibung mit der Gegenwart toll, die entsteht, weil die Menschen auf der | |
Straße stehen“, sagt Chrudina. Dazu zählt etwa der ungeplante Soundeffekt | |
der häufigen Berliner Sirenen just in dem Moment der eindrücklichen | |
Erzählung über das Untertauchen und Verstecken vor der Gestapo von | |
[5][Margot Friedländer.] Die Färbung ihrer Haare, die Operation der Nase, | |
um nicht erkannt zu werden: „Ich will den anderen und mir selbst fremd | |
sein.“ | |
## Interessierte Berliner Passant*innen | |
Die große Spaziergruppe mit Masken, Zetteln, Kopfhörern in den Ohren und | |
teilweise Klappstühlen in den Händen weckt auf der Straße das Interesse von | |
Restaurant-Besucher*innen und Anwohner*innen. Immer wieder öffnen sich | |
Fenster, Smartphones werden gezückt, Menschen schauen interessiert von | |
ihrem Teller mit georgischem Essen auf. Da passiert wieder Kultur in | |
Berlin, da gibt es [6][wieder etwas zu beobachten]. | |
Durch die Unmittelbarkeit der Spielorte gibt es viele Zuhörer*innen von | |
kleinen Teilen des Stücks und kurze interessierte Nebengespräche von | |
Publikum und Passant*innen. Abgerundet wird diese gelungene Vermischung von | |
Vergangenheit und Gegenwart mit ein paar wenigen | |
Berliner-Schnauze-Beschimpfungen: Im Audiostream vertieft, mit den Augen | |
Spuren von früher suchend, läuft es sich eben unaufmerksam über die Straße. | |
21 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Angriffe-auf-KZ-Gedenkstaetten/!5684941&s=Neue+Synagoge/ | |
[2] /Historikerin-ueber-weibliche-Strassennamen/!5621478&s=Oda+Schottm%C3%B… | |
[3] /Historikerin-ueber-Zeitzeugen-Interviews/!5702833&s=Zeitzeugen/ | |
[4] /Theater-in-Zeiten-nach-Corona/!5704777&s=corona+kultur/ | |
[5] /Neues-Ehrenbuergerportraet-in-Berlin/!5667135&s=Margot+friedl%C3%A4nder/ | |
[6] /Die-Wochenvorschau-fuer-Berlin/!5702446&s=corona+kultur/ | |
## AUTOREN | |
Linda Gerner | |
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