| # taz.de -- Theater in Zeiten nach Corona: Alles muss anders und neu werden | |
| > Wie könnten sich Theater nach der Erfahrung der Entschleunigung aus der | |
| > Pandemie neu aufstellen? Eine Ideenskizze für ein Ganztagstheater. | |
| Bild: Das antike Theater Epidaurus | |
| Freie Abende sind toll. Zum Denken, zum Daten, zum Kochen, zum Meditieren, | |
| zum Spazieren, zum Lesen, Geschichten vorlesen, Briefe schreiben und so | |
| weiter. All das wissen wir seit Corona. Wir, die Leute, die im | |
| Theaterkontext arbeiten. Denn für Theaterarbeiter*innen gab es – wie für | |
| viele andere – vorher keine freien Abende. Es gab aber auch keine freien | |
| Vormittage. Keine freien Wochenenden und manchmal noch nicht mal freie | |
| Nächte. Anträge schreiben, Texte, Proben, Forschen, Verwalten, Abrechnen, | |
| Diskurse verfolgen, Spielpläne studieren, Akquise, Socialising … Sieben | |
| Tage die Woche. Also: kein Frei. Und deshalb kommt hier eine steile These: | |
| Vielleicht vermisst das Publikum das Theater mehr als diejenigen, die es | |
| machen? Denn die wollen ihre freien Abende nicht mehr hergeben. | |
| Viel ist in den vielen Texten, die zur Situation von Theaterarbeiter*innen | |
| in letzter Zeit aufgezeichnet wurden, die Rede von (Über-)Produktionsdruck, | |
| (Selbst-)Ausbeutung, Burn-out, von „Alles muss anders und neu gedacht | |
| werden“. Der Choreograph Jeremy Wade, der zuletzt mit neun Ausgaben seiner | |
| Future Clinic of Critical Care durch die Theaterszene tourte, | |
| diagnostiziert: „Wir sind erschöpft. (…) Wir wollen nicht zurück zu den | |
| unmöglichen, nicht nachhaltigen, entmenschlichenden Arbeitsbedingungen der | |
| Kulturproduktionsmaschine und ihren rückgratbrechenden Verträgen.“ | |
| [1][Das selbsterklärte „Stadttheater der Zukunft“ NTGent] ruft aus: „Ste… | |
| alles in Frage!“ Und: „Wir müssen unsere Beziehung mit dem Publikum, den | |
| Mitmenschen, der Welt neu überdenken.“ Die Berliner Festspiele fragen: „Und | |
| jetzt? Kaum jemand will, dass es weitergeht wie vorher. Aber wo können wir | |
| landen?“. Der Berliner HAU-Kurator Ricardo Carmona referierte kürzlich auf | |
| einen Spruch, der um die Welt ging: „We can’t go back to normal because | |
| normal was the problem.“ | |
| Nur: Wird wirklich alles anders werden? Ist das Lächeln der Ballerina | |
| ausgelächelt? Wo sind die Theater, die uns – über implementierte | |
| Virus-Schutzmaßnahmen und ein breiteres digitales Angebot hinaus – in der | |
| neuen Spielzeit mit einem „Alles anders“ überraschen? Die (angesichts einer | |
| zweiten Welle) in freiwillige Denkquarantäne gehen? Die festgestellt haben, | |
| dass Kunst nicht nur „systemrelevant“, sondern auch systemisch betroffen | |
| ist? Oder wird letztlich dafür wenig Raum übrig bleiben? | |
| Theater und Gemeinschaft | |
| Anfangs seien die Leute hoffnungsvoll gewesen, dass die Krise einem System | |
| der Überkonsumation ein Ende setze, so der Dekolonialitätssoziologe Rolando | |
| Vázquez Melken in einem Interview für die niederländische Zeitschrift | |
| Theaterkrant. „Diese ursprüngliche Hoffnung, dass ein Ende des Systems in | |
| Sicht sei, schlägt inzwischen mehr und mehr in Verzweiflung um. Einige | |
| nehmen vielmehr wahr, dass die Krise, statt eines Anhaltens, die Logik des | |
| Systems beschleunigt und intensiviert.“ | |
| Nur: Auch Systemkritik ist, in Zeiten, in denen Gesellschaftsverträge nicht | |
| in ihrer von uns allen mitzuverantwortenden Dürftigkeit analysiert, sondern | |
| mit besorgniserregender Dreistigkeit attackiert werden, schwieriger | |
| geworden. Eine Lösung könnte, wie die Berliner Festspiele oder das | |
| Radialsystem in ihren Programmen andeuten, eine das Publikum einbeziehende | |
| Selbstbefragung sein. Auch Wade und Vázquez fordern ein Theater, das die | |
| Frage nach einer solidarischen Gemeinschaft stellt, einer Gemeinschaft, die | |
| die Bedürfnisse Einzelner und die Forderungen der Gemeinschaft an die | |
| Einzelnen neu bewertet. Das Gemeinschaftliche des Theaters, die | |
| Möglichkeit, Gesellschaftsverträge auszuhandeln und zu erproben, könnte | |
| sein fundamentalster ästhetischer Wert sein. Nur eine hochsensibilisierte | |
| Kunst könnte in der Lage sein, Mittel zu finden mit der aktuellen | |
| Vertrauenskrise umzugehen. | |
| Das muss nicht auf einer zentralperspektivischen Bühne passieren. Wie sehr | |
| die Institution Theater an „altmodische“ Repräsentationsformen gebunden | |
| ist, das fiel nicht erst dem NTGent-Direktor Milo Rau während der Krise | |
| auf. Theater wäre also unter Umständen frei von seinen traditionellen | |
| Institutionen zu denken. Als Idee. | |
| Theater „9 to 5“ | |
| Es wäre, zumindest solange das Burn-out-Produzieren anhält, vor allem frei | |
| von Abendvorstellungen zu denken. Ein „9 to 5“-Theater. Ein | |
| Ganztagstheater. Als Experiment. Wenn es stimmt, dass Kultur ein | |
| Lebensmittel ist, dann sollten ihre Zutaten ganztags, zu normalen | |
| Arbeitszeiten, verfügbar sein. Für Familien, Elternteile mit Kindern, für | |
| Schichtarbeiter*innen, aber auch für alle, die von ihren | |
| Arbeitsplätzen oder (nicht existenten) Homeoffices heraus gemeinschaftliche | |
| Erfahrungen suchen. Eine erste Etappe, vor dem Grundeinkommen, könnten | |
| Kulturgutscheine sein. | |
| Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, diese viermal im Monat zu | |
| Arbeitszeiten einzulösen. Für Selbstständige würde nach dem Vorbild der | |
| Corona-Hilfsprogramme ein Kulturbudget ausgeschüttet, sodass der | |
| Durchschnittsumsatz während der 10 monatlichen Kulturstunden vom Staat | |
| übernommen würde. Ob und wie die Gutscheine an ein bestimmtes Kunstniveau | |
| gebunden wären, müsste verhandelt werden. Den Raum und die Methode dafür zu | |
| schaffen, wäre vielleicht durchaus ein Auftrag an eine Kunstform, die | |
| Fragen der Gemeinschaft verhandelt, sprich: das Theater. | |
| Rolando Vázquez denkt den Verlust des Körpers im erwähnten Interview mit | |
| dem der Gemeinschaft zusammen. Die Aufgabe der Künste sei es, kritisches | |
| Engagement zu fördern, nicht eine Politik der Vereinzelung zu unterstützen. | |
| Genau darum braucht es ein Ganztagstheater. Und wegen der freien Abende. | |
| 6 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Astrid Kaminski | |
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