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# taz.de -- Matthias Mohr über Empathie: „Mehr Dialog als Umarmung“
> Der künstlerische Leiter des Berliner Radialsystems setzt in seiner
> Arbeit auf Empathie gegen gesellschaftliche Spaltung.
Bild: Matthias Mohr, Künstlerischer Leiter am Radialsystem Berlin
taz: Matthias Mohr, sind Sie immer höflich zu digitalen Assistentinnen?
Matthias Mohr: Das kann ich klar mit Nein beantworten.
Erstaunlich, dass sogar Leute wie Sie die Contenance verlieren, wenn sie
statt mit einer Service-Arbeiterin mit einer Maschine sprechen müssen.
Vielleicht wird sich das bald ändern. Die Art des Algorithmengebrauchs ist
ja bislang noch rudimentär. Was müssen sie können, damit wir nicht nur die
Contenance bewahren, sondern vielleicht sogar eine Beziehung zu ihnen
aufbauen?
Um diese Beziehung drehte sich in Ihrem Programm „New Empathies“ die
begehbare Installation „Pillow Talks“ von Begüm Erciyas.
Tatsächlich waren die Algorithmen so schlau programmiert, dass ich mich von
ihnen abgeholt fühlte. Am Ende haben wir ein Lied zusammen gesungen und ich
konnte fast vergessen, dass mein Gegenüber eine digitale Assistentin war.
Ich war auch dort, habe mich auf ein Lautsprecherkissen gelegt und mein
Aggressionslevel steigen gefühlt. Was habe ich falsch gemacht? Im Vorfeld
zu oft mit O2 telefoniert?
Ich denke, es ging der Künstlerin nicht um die Aussage, wie toll
Algorithmen sind. Vielmehr steht hinter der Arbeit auch die Frage, wie
manipulierbar wir sind. Algorithmen sind programmiert und reproduzieren die
alltäglichen Stereotypen, die wir mit uns rumtragen. Sie greifen immer
zurück auf etwas, was wir schon kennen. Die Gefahr, unseren Alltag durch
die Programmierung noch viel mehr auf diesen Vorurteilen und Stereotypen
aufzubauen, besteht.
Sie sind seit zwei Jahren künstlerischer Leiter des [1][Radialsystems] und
setzten seither programmatisch auf Empathie. Gab es einen Schlüsselmoment
dafür?
Ich habe mich dem Begriff der Empathie und seiner Wichtigkeit in Zeiten des
politischen und gesellschaftlichen Auseinanderdriftens erst einmal intuitiv
genähert. In den letzten Jahren wurde er unglaublich aufgeladen – und oft
auch verdammt. Das habe ich versucht zu verstehen. Meist wird er mit
Mitleid verwechselt, was ja etwas Unproduktives haben kann: Man leidet mit
und das war’s dann. Im Empathiebegriff steckt dagegen mehr ein Einfühlen
als ein Mitfühlen, oder, wie der Soziologe Richard Sennett sagt, mehr
Dialog als Umarmung. Man bewahrt sich also eine Distanz zum Gegenüber, aus
der heraus man handlungsfähig bleibt. Auf dieser Basis kann eine Resonanz
entstehen und sich etwas Drittes, ein dritter Raum öffnen.
Wem öffnet sich dieser Raum, welchen gesellschaftlichen Gruppen? Stichwort
„Mit Rechten sprechen“ oder wie viel Empathie braucht ein
Verschwörungstheoretiker?
Unsere Verantwortung liegt nicht darin, jenen, deren Verhalten sich durch
Empathielosigkeit auszeichnet, einen repräsentativen Raum zu geben. Der
Verlust von Empathie führt zu Mitteln, die auf den Prinzipien von Macht und
Unterdrückung aufbauen. Man kann nun so weit zurückgehen, sich zu fragen,
wofür das, was im politischen Raum passiert, das Ventil ist – und
feststellen, dass unter Umständen schon im Vorpolitischen ein Mangel an
Liebe und Verständnis herrscht, was dann zu Formen von Negativkompensation
führt. Der Verlust von Empathie bedeutet, dass wir, früher oder später, zu
Tätern werden. Ich benutze hier bewusst die männliche Form, weil ich zum
Beispiel an Gewalt gegen Frauen denke, die im Zusammenhang mit der
Coronakrise massiver wurde, aber auch an die großen weltpolitischen
Konflikte, in denen wir uns befinden. Hass darf nicht mehr Raum bekommen.
Die Frage ist: Wie schaffen wir ein gesellschaftliches Klima, das nicht auf
falschverstandener Stärke basiert?
Ja, wie? Kunst ist kulturell codiert. Geht es nicht in erster Linie um den
fast martialischen Akt des Knacken von Codes?
Oft viel mehr, als wir uns das als Kulturschaffende eingestehen wollen.
Beziehungsweise ist es sehr schwierig, uns darüber bewusst zu werden,
welche Codices im kunsthistorischen Kanon des Westens vorherrschen und wie
stark wir ihn als vorherrschendes System, das alle verstehen, voraussetzen.
Dabei ist das Wesen von Kultur per se nicht Homogenität. Ich finde in
dieser Beziehung den Begriff der Transtraditionalität wichtig. Schon allein
die Berliner Kulturszene beruht auf unzähligen Traditionen. Es wäre – jetzt
werde ich ein wenig pathetisch – wunderbar, wenn es uns im Radialsystem
gelingt, sie aufeinanderprallen zu lassen und ein Klima zu schaffen, in dem
die „Überlegenheit des Eigenen“ ein wenig abblättert.
Ist die vierte Wand, also die Trennung von Zuschauer_in und
Bühnengeschehen, die wir inzwischen für altmodisch und teils verzichtbar
erklärt haben, nicht eigentlich ideal, um eine Resonanz aus der
empathischen Distanz heraus entstehen zu lassen?
Es muss keine vierte Wand sein, aber eine Situation, die es mir als
Zuschauer_in ermöglicht, meine Autonomie zu wahren und Distanz einzunehmen,
halte ich für produktiv. Das kann sich räumlich beispielsweise auch so
niederschlagen, dass ich mich einem Objekt oder Geschehen nähern kann und
wieder entfernen. Das kann sich aber auch in einer traditionellen
Bühnensituation abspielen, in der ich dann aber nicht nur eine Szene von
zwei Liebenden geboten bekomme, deren Umarmung ich rührend oder blöd finde,
sondern ein Angebot, das ich als Zuschauer_in selbst verknüpfen kann. Auch
diese Distanz, also die Möglichkeit, nicht einfach etwas übernehmen zu
müssen, sondern eine Offenheit vorzufinden, in der ich Dinge anders
kombinieren und mich unter Umständen sogar verirren kann und vielleicht gar
nicht mehr in die sogenannte Normalität zurückfinde, ist mir wichtig.
Ist es die Aufgabe der Kunst, ein gesellschaftspolitisches Nothilfeprogramm
bereitzuhalten?
Ich würde es nicht als die Aufgabe der Kunst bezeichnen. Aber sie bietet
einen Rahmen, in dem bestimmte Themenkomplexe, die im Gesellschaftlichen
marginalisiert werden, reflektiert werden können. Wenn Themen – wie
Empathie oder Fürsorge und Aufmerksamkeit – in der Kunst auftauchen, ist
das eigentlich immer ein Zeichen dafür, dass sie im gesellschaftlichen
Diskurs verdrängt werden und einen Ort suchen, an dem sie wieder gestärkt
werden, um so im besten Fall in die Gesellschaft zurückfinden zu können.
Das Marginalisierte, Verdrängte findet in der Kunst einen Raum. Zum Glück.
Das ist die Kraft der Kunst, nicht ihre Aufgabe.
31 Aug 2020
## LINKS
[1] https://radialsystem.de/
## AUTOREN
Astrid Kaminski
## TAGS
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