# taz.de -- Musiktheater im Stream: Musikalische Alltagsgeräusche | |
> Was hört man in einem Musikgeschäft? Und wer trifft sich dort? Die | |
> Uraufführung einer Performance aus dem Berliner Radialsystem uferte | |
> zeitlich aus. | |
Bild: Betrachten das Soziotop eines Musikgeschäfts: Bastian Zimmermann und Neo… | |
„Wie lang wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen …“ So | |
beginnt der innere Monolog des Leutnant Gustl in der Novelle von Arthur | |
Schnitzler aus dem Jahr 1900. Gelangweilt sitzt er in einem Konzert und | |
denkt ein paar Zeilen später: „Jetzt wird’s doch bald aus sein?“ | |
Wenn einem trotz Coronatristesse während eines Theaterabends mehrfach die | |
Worte Leutnant Gustls in den Sinn kommen, war das Gesehene nicht kurzweilig | |
genug. Einen Online-Stream über drei Stunden und 20 Minuten zu verfolgen | |
ist anstrengend. Es ist noch anstrengender, wenn es in den drei Stunden | |
weder eine Figurenentwicklung noch eine richtige Handlung gibt und das | |
Geschehen nach einer Stunde zunehmend redundant wird. | |
## Nerds, Profis, Anfänger*innen | |
Mit der Uraufführung der [1][Theaterperformance „Das Musikgeschäft“] hat | |
sich das Radialsystem Berlin am Samstagabend, 13. Februar, unter der | |
künstlerischen Leitung von Neo Hülcker und Bastian Zimmermann nach eigener | |
Beschreibung dem „Soziotop aktueller Musikproduktion“ gewidmet. In einem | |
Musikgeschäft treffen Musikfreunde aus unterschiedlichsten Bereichen und | |
von jeder Begabungsstufe aufeinander. Nerds, Profis, Anfänger*innen | |
probieren neue Instrumente aus, lassen etwas reparieren, führen | |
Fachgespräche und erwerben neue Noten. | |
Die Aufmachung ist durchaus ansprechend. Die Verkäufer*innen Armin und | |
Heinrich stehen mit blinkendem Namensschildchen in ihrem attraktiv | |
beleuchteten und vielseitig bestückten Musikgeschäft. Michael Kleine und | |
Lisa Fütterer haben dafür [2][im Radialsystem] eine tolle offene Bühne | |
kreiert, die mit den unterschiedlichen Kameraperspektiven im Online-Stream | |
großartig harmoniert. Die Ausstattung mit blinkender CD-Deko und | |
verspielten Details, wie etwa einer Krawatte mit Klaviertastenoptik, ist | |
liebevoll trashig. Die räumliche Umsetzung für eine Online-Darstellung ist | |
abwechslungsreich, die Tontechnik funktioniert gut. | |
Für die Verkäufer*innen läuft es im Musikgeschäft nicht rund, immer | |
wieder müssen sie längere Zeit auf Kund*innen warten. Mit Teleshopping | |
versuchen sie eine neue Akquise. Der sympathische Armin (Armin | |
Dallapiccola/Wieser) wirft sich in blauer Strickjacke und weißem Hemd in | |
Pose. Ein verschmitztes Lächeln, eine sexy Stimme, ein paar freshe | |
Anglizismen und natürlich ist er im improvisierten Text „per Du“ mit dem | |
Publikum. Am „fancy Saturday“ will er allen „Kings, Queens und criminal | |
Queers“ Mundharmonikas und Gitarren verkaufen. Die Persiflage des | |
Teleshoppings ist zu Beginn unterhaltsam, zumal Zuschauer*innen live | |
anrufen und mit den Spielenden interagieren können. Doch Teleshopping ist, | |
der Vorlage entsprechend, bei der dritten Wiederholung nicht mehr | |
interessant. | |
## Da müsste Musik sein | |
Und befinden wir uns nicht an einem Ort voller musikalischer Möglichkeiten? | |
Regisseur Neo Hülcker hat den Fokus seiner Arbeit auf Musik als | |
anthropologische Untersuchung in alltäglichen Lebensumgebungen gelegt. | |
Dadurch hört man in dieser Theaterperformance viel und intensiv und | |
trotzdem viel zu wenig. An Instrumenten wird gekratzt, auf Tischen wird | |
geklopft, Chips werden geräuschvoll zerkaut. Nur die Musik, die fehlt zu | |
oft. Die Skizze zu „Das Musikgeschäft“ entstammt dem gleichnamigen, | |
unrealisierten Konzept aus den 80er Jahren des Schlagzeugers und | |
Komponisten Sven-Åke Johansson. Warum es unrealisiert blieb, wird im | |
Ankündigungstext nicht beschrieben. Nach dem Stück hat man eine Idee. | |
Wohltuende und laute Abwechslung bietet nach einer Stunde Spielzeit der als | |
musikalisches Wunderkind auftretende David Nemtsov, der im Proberaum des | |
Musikgeschäfts ein Schlagzeug-Solo hinlegt. Der 12-jährige Berliner Musiker | |
ist Gewinner von „Jugend musiziert“ 2020, er bringt etwas Beat ins Stück. | |
Neben ihm treten im „Musikgeschäft“ mehrere andere Musiker*innen auf, | |
doch Musikstücke werden nur angeschnitten. Selten ist es dem Publikum | |
vergönnt, Instrumente in ihrer vollen Schönheit zu hören. Stattdessen hört | |
man, wie ein Akkordeon ausgepackt wird: der Schnitt mit dem Messer durch | |
Karton, das Knistern des Klebebandes, das Knacken von zerplatzenden | |
Luftpolstern. Es ist der Sound der Zeit, wenn man so will, mit viel | |
Online-Shopping, viel Müll und ohne Livekonzerte. | |
Weitesgehend unbeachtet bleiben die realen Probleme für Fachgeschäfte und | |
freischaffende Künstler*innen in der Coronapandemie. Nur oberflächlich | |
wird erzählt, welche Menschen es in ein Musikgeschäft verschlägt, welche | |
vielleicht nicht. Wenig ausgeschöpft wird das Potenzial, die realen | |
Musiker*innen mit ihrer Musik und durch gut verstehbare Dialoge | |
vorzustellen. | |
Kratzen an der Oberfläche, so interessant das auf einer Gitarre auch | |
klingen mag, funktioniert nicht auf so eine Zeitdauer. Besser geeignet ist | |
das Stück daher vielleicht als Nebenbei-Unterhaltung. Wie Teleshopping. | |
16 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Linda Gerner | |
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