# taz.de -- Diskursives Musiktheater: Die Tragik des falschen Akzentes | |
> Das Projekt „Songs For Captured Voices“ im Radialsystem spannt einen | |
> weiten Bogen. Seinen diskursiven Ansprüchen wird es aber nicht gerecht. | |
Bild: Das Musiktheater „Songs For Captured Voices“ im Berliner Radialsystem | |
Wie wurden Lautaufnahmen menschlicher Stimmen in der Welt- und | |
Zeitgeschichte instrumentalisiert? Wie wurden und werden sie zur | |
politischen Machtausübung eingesetzt? Das ist die (große) Ausgangsfrage des | |
diskursiven Musikprojekts „Songs For Captured Voices“, das eigentlich in | |
diesen Tagen als Echtzeitmusik-Performance im Radialsystem gezeigt werden | |
sollte – nun aber aufgrund der Lockdown-Situation vorerst nur als | |
Albumversion (mit Booklet) abrufbar ist. | |
„Songs For Captured Voices“, eine Zusammenarbeit der*des Berliner | |
Komponist*in Laure M. Hiendl mit dem Ensemble KNM Berlin und der | |
Londoner Sängerin und Performerin Elaine Mitchener, setzt sich mit | |
Stimmaufnahmen in zwei unterschiedlichen historisch-geselllschaftlichen | |
Kontexten auseinander. Zum einen mit jenen aus den deutschen | |
Kriegsgefangenenlagern beider Weltkriege, als etwa [1][im Ersten Weltkrieg | |
im sogenannten „Halbmondlager“ bei Wünsdorf/Zossen die Stimmen der | |
Inhaftierten – zum Beispiel von Indern und Kongolesen – zu ethnologischen | |
Zwecken aufgenommen wurden]. | |
Zum anderen beschäftigt sie sich mit einer Praxis, die beim Bundesamt für | |
Migration und Flüchtlinge (Bamf) seit 2017 angewandt wird: Eine | |
Sprachsoftware dient der automatisierten Erkennung von Dialekten jener | |
Asylbewerber*innen, die keine Identifikationspapiere vorlegen. Von vielen | |
Seiten sind diese digitalen Assistenten als intransparent und | |
fehleranfällig kritisiert worden – benutzt werden sie bis heute. | |
In der Komposition „Songs For Captured Voices“ sind nun nicht die | |
Lautaufnahmen der Gefangenen oder Asylsuchenden zu hören, wie man denken | |
könnte, sondern das Team um Hiendl hat ein Libretto zu einer Klangcollage | |
verfasst. Elaine Mitchener liest und singt die Texte; dem Sujet | |
entsprechend wird ihre Stimme geloopt, hoch- und runtergepitcht, es wird | |
viel mit Stimmmodulation gearbeitet. | |
Im ersten Stück „Welcome“ etwa spricht Mitchener einen Werbeclaim des Bamf, | |
wobei ihre Stimme verfremdet wird und leiert – ein wenig dezenter Hinweis | |
auf die Möglichkeit, menschliche Stimmaufnahmen zu manipulieren. Die | |
Soundscapes des Ensemble KNM Berlin bestehen teils aus sachtem Trommeln | |
oder metronomartiger Percussion, teils aus lautem Noise-Gewummer oder | |
Cello-Drones. | |
Texte im Fokus | |
Im Zentrum aber stehen die gesprochenen und gesungenen Texte – und deren | |
Inhalte sind nicht immer überzeugend. Wenn sie nah bei ihrem Gegenstand | |
bleiben, erscheinen sie nachvollziehbar und punktgenau: Etwa wenn der | |
PR-Sprech des Bamf gesampelt, verunstaltet und entlarvt wird („Putting | |
people first: providing security, creating opportunities, embracing | |
change“), oder wenn in „The Occasional Coughs“ („Das unwillkürliche | |
Husten“) die Folgen beschrieben werden, die es haben kann, wenn der Akzent | |
eines Asylsuchenden falsch erkannt wird: „makes a mistake with the accent/ | |
a tragedy“ („macht einen Fehler mit dem Akzent/ eine Tragödie“). Auch da… | |
man jenen Namen gibt, die einst in den Gefangenenlagern für die | |
Lautaufnahmen als völkerkundliche Objekte herhalten mussten („Say their | |
names: Mall Singh, Albert Kudjabo, Josep T.“), ist einleuchtend. | |
Doch es gibt auch jene Texte, in denen alles, was so durch den | |
postkolonialistischen Diskursraum wabert, frei flottierend gesampelt wird. | |
Da stellt man etwa in „Listen To The Sound Of Bullets“ die viel zitierte | |
Alltagsphrase „Where are you from? Where exactly are you from?“ als | |
Analogie neben die einstigen Rassetheoretiker und Ethnologen; ganz so, als | |
lebten wir heute noch in Zeiten der Völkerschauen, als habe es keine | |
Entwicklung gegeben, als sei Dekolonisierung nicht notwendigerweise ein | |
Prozess. So richtig es ist, Kontinuitäten aus der deutschen Kolonialzeit | |
zum NS aufzuzeigen, so fragwürdig wirkt da mancher Vergleich zum heutigen | |
Europa und Deutschland. | |
In „News“ schließlich werden recht uninspiriert und kontextfrei Krisenherde | |
nebeneinandergestellt. Es dürfte überdies kein Zufall sein, dass kurz | |
darauf Israel in ahistorischer Weise als kolonialistisches Projekt wie | |
jedes andere aufgeführt wird und ausgerechnet dieser Staat genannt wird, | |
wenn es um die KI-Kriege der Zukunft geht: „Israeli face recognition | |
systems/ identified a Palestinian/ Then…“. Es scheint evident, was „then�… | |
„dann“ passiert. | |
So bringt sich diese Arbeit stellenweise um die legitime Kritik, weil sie | |
Dinge ungenau kontextualisiert, die differenzierter betrachtet werden | |
müssten. Schließlich ist es auch schade, dass die hochspannenden | |
Ausgangsgegenstände nicht genauer auseinandergenommen werden. Über die | |
Funktionsweise der Bamf-Software etwa wird insgesamt recht wenig öffentlich | |
diskutiert, über sie hätte man gern sehr viel mehr gewusst – dies wäre der | |
Raum dafür gewesen. Auch über das – nicht mehr gänzlich unbekannte – | |
Lautarchiv und seine Geschichte hätte es noch viel Erzählenswertes gegeben. | |
Trotz der teilweise gelungenen Polemiken und Anklagen bleiben so viele | |
Fragen offen – und man hätte sich mehr Arbeit am eigentlichen Material | |
gewünscht. | |
22 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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