# taz.de -- Ein neues Stück von Sasha Waltz: Weg ins Unbekannte | |
> Kokons und Stacheln: Im Dialog mit den Kostümen von Iris van Herpen | |
> entstand mit „Kreatur“ ein neues Tanzstück von Sasha Waltz. | |
Bild: Das Ensemble Sasha Waltz & Guests tritt hier als Gruppe an, aufgemischt v… | |
Es ist eine Reise durch kalte Welten. „Kreatur“, das neue Tanzstück von | |
Sasha Waltz, bewegt sich in einem fernen Irgendwo, nicht zu verorten in | |
Zeit und Raum. Die Wesen, die wir über 90 Minuten hinweg beobachten, von 14 | |
Tänzern dargestellt, ähneln Menschen zwar; aber es könnten auch | |
menschenähnliche Maschinen sein, in deren Programm soziale Regeln und | |
emotionale Verhaltensweisen nur noch kryptisch vorhanden oder falsch | |
verbunden sind. | |
Die Gruppe, die Horde, die Paare, die Einzelnen: etwas in ihren Bewegungen | |
scheint vertraut, dockt an, wie das Greifen langer Arme nach dem anderen | |
Körper, die Suche nach Schutz oder der attackierende Ausfallschritt, eine | |
bedrohliche Beschleunigung. Aber die nächste Bewegungsvokabel bildet damit | |
keinen Satz, das gerade entstehende Bild entgleitet wieder. | |
Dabei hat das Stück auf visueller Ebene viele anziehende und aufregende | |
Momente. Anfangs bewegen sich mit tippelnden Füßen hell schimmernde Kokons | |
über die leere Bühne im Radialsystem, mit der Lichtveränderung schimmert | |
ein Körper durch das Geflecht. Sie kriechen heraus, dringen in den Kokon | |
eines anderen ein, sammeln sich, vereinzeln sich. | |
## Konkrete Skulptur und symbolische Bilder | |
Eine Spiegelfolie kommt ins Bild, transparent und reflektierend, verzerrt | |
sie das Bild eines Körpers. Die Augen der Zuschauer beschäftigt das eine | |
Weile. Ein großer schwarzer Tänzer zittert unter ihr und wirft sie von sich | |
wie eine giftige Haut. Aber was erzählt das jetzt? | |
Einige Momente sind als Symbole lesbar. Am Rand der Bühne steht eine | |
schmale Treppe, die zu einem Absatz vor einer Wand führt. Kaum zu glauben, | |
dass sich alle 14, groß und klein, in diesem Raum drängen können, aber sie | |
versuchen es, quetschen sich, halten sich, drücken dann doch gegeneinander, | |
schon stürzen die Ersten ab, andere retten sich über die Mauer. So viele | |
Bilder von Not, Bedrängnis und Flucht hat man gesehen, dass man gar nicht | |
anders kann, als das hier wiederzuerkennen. | |
## Die Furcht vor dem Ungeheuer | |
Dann wird es mythisch, ein Ungeheuer kommt ins Bild, dunkel und | |
stachelbewehrt. Jede Rückenbeuge, jedes Kopfschütteln lässt das Licht über | |
die metallischen Spitzen wandern, die sich bewegen wie Tentakel eines | |
Wesens unter Wasser. Die anderen Körper, bloß und unbewehrt, fürchten diese | |
Erscheinung, sie treten davor in einer Reihe an wie Delinquenten, die einen | |
sinken vor Angst leblos in die Arme der anderen. | |
Geht es hier um ein Opfer, wird das Märchen „La belle et la bête“ gespiel… | |
Ein bisschen ja, ein bisschen nein. Die Kostüme stammen von der | |
niederländischen Designerin Iris van Herpen. Sasha Waltz war begeistert, | |
als sie deren mit ungebräuchlichen Stoffen wie Stahlgewebe und mit neuen | |
Technologien verarbeitete Kreationen entdeckte. | |
Die Choreografin und die Modemacherin, die ebenfalls an der skulpturalen | |
Verfremdung des Körpers interessiert ist, tauschten Idee, Skizzen, | |
Zeichnungen. Für Sasha Waltz war das die Herausforderung, die sie suchte, | |
um im Tanz auf von ihr noch nicht begangene Wege zu kommen. | |
## Back to the basics | |
Allein, dies Ausgehen von den visuellen Impulsen und der Veränderung des | |
Körperbildes, das die Kostüme auslösen, führt nur sehr bruchstückhaft zu | |
einer Narration, der man sich als Zuschauerin emotional anheften könnte. | |
Man staunt und bewundert, aber die Neugierde fehlt, wie der Witz und die | |
Empathie. Ohne all das auszukommen ist nicht einfach. Dass die Choreografie | |
trotzdem über 90 Minuten trägt, man der Anspannung der Tänzer, die keinen | |
Moment der Lässigkeit haben, folgen wollte, ist auch eine Leistung. | |
An vielen ihrer Stücke und an ihren Choreografien für Opern hat Sasha Waltz | |
im Radialsystem in Berlin geprobt, hier aber seit mehr als zehn Jahren | |
keine Uraufführung herausgebracht. „Kreatur“ war auch eine Rückkehr zu | |
ihren Basics: nicht zu einer fertigen Musik, nicht zu einem Opernlibretto | |
zu arbeiten, sondern sich Zeit zu nehmen, etwas entstehen zu lassen, zu | |
reagieren, auf die anderen Künstler einzugehen. | |
Dazu gehören neben Iris van Herpen das Soundwalk Collective, das | |
akustisch teils in große, hallende Räume eintaucht, ferne Maschinen | |
einspielt, Techno, Stimmen, auch einmal „Je t’aime“ zitiert. So abstrakt | |
ihre Musik ist, die Assoziationen liegen hier doch dichter als in der | |
Choreografie selbst, die merkwürdig im Leeren bleibt. | |
16 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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