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# taz.de -- Choreograf Cherkaoui über Tanz: „Menschen lieben das Drama“
> Er ist ein Sammler vieler Tanzsprachen und er leitet das Ballett
> Vlaanderen: Für Sidi Larbi Cherkaoui ist das kein Widerspruch.
Bild: Alles kommt irgendwann zusammen: Szene aus „Noetic“ von Sidi Larbi Ch…
taz: Herzlichen Glückwunsch zu „Café Müller“, Herr Cherkaoui! Sie sind d…
einzige künstlerische Direktor, der sich bislang die Rechte zu diesem
bekanntesten Werk von Pina Bausch sichern konnte. Gerade hatte das Stück
beim Ballet Vlaanderen Premiere. Wie haben Sie das geschafft?
Sidi Larbi Cherkaoui: Seit 1999, als ich mit Alain Platels Les Ballets C de
la B zum ersten Mal nach Wuppertal kam, war ich regelmäßig bei Pina Bauschs
Sommerfestival zu Gast. Das letzte Mal sah ich Pina 2008. Sie hatte die
indische Tänzerin Shantala Shivalingappa und mich um ein gemeinsames Duo
gebeten. 2002 hatte ich außerdem Dominique Mercy, der nach Pinas Tod
künstlerischer Leiter in Wuppertal wurde, in Avignon kennengelernt. Wir
wurden Freunde. Drei Jahre lang war ich hinter dem Stück her.
Sie haben zuvor auch schon „Der grüne Tisch“ von Kurt Jooss, dem
Mitbegründer der Folkwangschule und Impulsgeber für Pina Bauschs
Tanztheater, wieder aufgeführt. Geht es Ihnen auch um die Tradition des
Tanztheaters?
Das ist ein sehr wichtiger Teil der Tanzgeschichte, der Ballettgeschichte.
Ja, es geht mir darum, diese Traditionslinie, die so viele Tänzer*innen und
Choreograf*innen geprägt hat, zu würdigen. Als ich „Café Müller“ 1999, …
junger Tänzer, zum ersten Mal sah, hat es auch mich im Kern berührt. Es hat
mir gezeigt, wie man mit Tanz auf eine andere, ganz eigene Art Geschichten
erzählen kann.
Sie nehmen auffällig viele Choreograf*innen mit ins Programm auf. Etwas,
was bei Ballett-Kompanien immer noch nicht selbstverständlich ist.
Als ich vor zwei Jahren zum Direktor des Ballet Vlaanderen berufen wurde,
habe ich mir viele Gedanken über sogenannte Repertoire-Kompanien gemacht.
Das Ballet Vlaanderen wurde von einer Frau gegründet, die für ihre Zeit mit
sehr modernem Vokabular arbeitete, Kathryn Bennetts hat es zuletzt zu
einer der ersten europäischen Kompanien gemacht. Es ist mir daher ein
großes Anliegen, die weibliche Tradition zu erhalten. Dafür steht auch der
Triple-Bill-Abend mit „Café Müller“ sowie Martha Grahams „Chronicle“ …
Stück über das Aufkommen des Faschismus im Spanischen Bürgerkrieg, A. K.)
und „Ecdysis“ (über die Identität von Geflüchteten, A. K.) von Annabelle
Lopez Ochoa.
Als Sie zum Direktor des Ballet Vlaanderen wurden, gab es ähnliche Bedenken
gegen Sie wie hier in Berlin gegen die Entscheidung, Sasha Waltz mit der
Leitung des Staatsballetts zu betrauen. Man fürchtete, dass Sie zu
zeitgenössisch arbeiten.
Ich schaffe seit 15 Jahren Werke für sämtliche große Ballett-Kompagnien,
angefangen habe ich bei Les Ballets de Monte-Carlo. In dieser Beziehung
sind die Bedenken also schwer nachzuvollziehen. Die Situation hat mich viel
über mein Flämischsein nachdenken lassen. Ich bin arabischer Flame. Auf
internationalem Niveau gelte ich zudem als erfolgreicher Künstler, der im
Ausland die Marke der flämischen Kunst mit vertritt. Aber ich habe keinen
flämischen Namen. Es kommt mir so vor, als sei ich für Flandern nicht
flämisch genug. Der rechte Flügel in der Politik ist inzwischen relativ
stark, und was das heißt, das merkt man am besten, wenn man Araber ist. Ein
Araber in Flandern zu sein, das ist vielleicht so, wie eine Frau in der
Welt zu sein. Zumindest kann ich mir ein wenig vorstellen, was ihr leisten
müsst.
Wie gingen Sie mit der Situation um?
Ich warf einen intensiven Blick in die Geschichte. Das hat mich
konsolidiert. Als Benjamin Millepied aus den USA nach Paris kam, hat man
dort um den französischen Stil gefürchtet. Als Nicolaj Hübbe Stücke von
Balanchine ins Royal Danish Ballet brachte, bekam man in Kopenhagen Angst
um die Tradition des Bournonville-Stils. Mit diesen Häusern sind jede Menge
Geld und persönliche Werdegänge verknüpft. Selbstverständlich entsteht
daher bei jedem Wechsel Angst. Außerdem lieben Menschen nun mal das Drama.
Das kann man nur überstehen, wenn man es nicht persönlich nimmt. Und doch
macht man sich mit jeder künstlerischen Entscheidung auch angreifbar, weil
sie letztlich, wenn auch im Kontext einer Expertise sowie politischer oder
ästhetischer Erwägungen, immer eine persönliche bleibt. Ich möchte derzeit
zum Beispiel keinen Balanchine programmieren.
Warum?
Balanchine war eine Art Aushängeschild, fast ein Propagandamittel, mit dem
Amerika zeigen konnte, dass es große Kunst, großes Ballett produzierte. Und
Balanchine hat sich das mehr als gefallen lassen. Er hat sich nicht davor
gescheut, die amerikanische Flagge im Hintergrund des Tanzes zu zeigen.
Gleichzeitig hat er es vermieden, russisches Ballett zu programmieren. Wenn
die Leute mich fragen, warum ich keinen Balanchine zeige, dann aus diesem
Grund. Ich denke, das wäre, bei dem, was derzeit in den USA passiert, nicht
die richtige Geste.
Sie sind der Enzyklopädist unter den Choreograf*innen. Jahrelang war es die
Basis Ihrer Arbeiten, sich neue Tanzstile beibringen zu lassen und aus
diesem praktischen Verständnis heraus dann eine Choreografie zu entwickeln.
Sie haben mit HipHop, indischem Tanz, Shaolin-Mönchen, Flamenco, Tango,
verschiedenen zeitgenössischen Techniken usw. gearbeitet. Es sieht nach
einem Widerspruch aus, wenn Sie nun Ballett-Direktor sind und damit eine
Kunstform vertreten, die sich seit ihrem Entstehen als die einzig wahre
Tanzkunst begreift, die sich über alle anderen europäischen und
nichteuropäischen Tänze erhoben hat.
Diese Bemerkung kann ich absolut nachvollziehen. Nicht umsonst erhalte ich
meine eigene Kompanie Eastman weiterhin am Leben. Ja, was Finanzen angeht,
ist Ballett eine absolut dominierende Kunstform. Aber Tatsache ist, dass
mehr und mehr Ballettkompagnien sich inzwischen öffnen. Sie haben einen
ungeheuren Appetit auf Zukunft. Zudem gibt es Hunderte verschiedener
Ballette. Das Ballet du Nord (in der Region Calais, A. K.) beispielsweise,
das von Olivier Dubois geleitet wird, hat nichts mit Spitzenschuhen zu tun.
Als Alain Platel die Ballets C de la B gründete, war es eine Art Witz,
heute arbeitet er mit den europaweit besten Tänzer*innen zusammen. Auch das
ist Ballettgeschichte. Genauso wie „Café Müller“. Pina wurde ja klassisch
ausgebildet. Für mich ist Ballett Tanz und Choreografie das Organisieren
von Bewegung im Raum. Es ist nichts Geschlossenes. Ich bin in einem Vorort
von Antwerpen aufgewachsen, habe Tanz durch den Fernseher entdeckt, und
jetzt arbeite ich mit den besten Kompagnien. Es ist alles voller
Möglichkeiten – das ist für mich die europäische Erfahrung. Heute gibt es
anstelle des American Dream den European Dream!
Sie kommen zum fünften Mal zum Movimentos Festival in Wolfsburg, dieses Mal
mit „Noetic“ und „Icon“, geschaffen für die Göteborger Oper. Der Bild…
Antony Gormley lässt dafür dreieinhalb Tonnen Ton auf die Bühne karren.
Mythologische Assoziationen an die Erschaffung der Welt entstehen, aber
auch an Gesten der Unterwerfung, Anklänge an die Terrakottaarmee oder das
Monumentale von Statuen. Darüber hinaus könnte das Werk aber auch eine
Arbeit über den Zweifel sein: Nichts behält seine Form. Der Ton wird nicht
gebrannt.
Ich würde es anders sagen: Es ist ein Stück über die Sicherheit des ewigen
Wandels. Selbst wenn Sie Ton brennen: Lassen Sie ihn danach fallen, wird er
brechen. Alles zerfällt irgendwann und wird von der Zeit zurückgeführt in
eine Art Lebensmagma. Nichts kann sich selbst erhalten. Diese Erkenntnis
beschwört nicht nur Hingabe, sondern auch Chaosenergien herauf. Ich denke,
„Icon“ steht, nach einer optimistischen Phase, die mit dem Shaolin-Stück
„Sutra“ 2008 begann, für einen erneuten Umbruch in meinem Schaffen, für
eine dunklere Epoche.
18 May 2017
## AUTOREN
Astrid Kaminski
## TAGS
Tanz
Ballett
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Sasha Waltz
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