# taz.de -- Choreograf Boris Charmatz in Wuppertal: Beziehungsstatus kompliziert | |
> Boris Charmatz leitet das Wuppertaler Tanztheater. Im Stück „Club Amour“ | |
> verbindet er Pina-Bausch-Klassiker mit eigenen Arbeiten über das | |
> Begehren. | |
Bild: Komplizierte Annäherung: Szene aus „herses, duo“ von Boris Charmatz | |
Mit „Club Amour“ verbindet Boris Charmatz an einem Abend das Wuppertaler | |
Tanztheater und sein Tanzprojekt „Terrain“ aus seiner französischen Heimat | |
in der Region Hauts-de-France. Er vereint seine und die Kunst von Pina | |
Bausch, aber auch Körper – und schließlich sogar das Publikum, als es für | |
seine Stücke auf die Bühne kommt. An diesem Abend trifft [1][Pina Bauschs | |
Klassiker] „Café Müller“, in dem vor allem Beziehungen verhandelt werden, | |
auf die Stücke „Aatt enen tionon“ und „herses, duo“ von Boris Charmatz… | |
Trennung und Verbundenheit thematisieren. | |
Boris Charmatz, der seit August 2022 das Wuppertaler Tanztheater leitet, | |
fordert mit „Club Amour“ viel von der Kompanie und vom Publikum im | |
Wuppertaler Opernhaus: Es wird in Schichten geschaut, weil für die Stücke | |
„Aatt enen tionon“ und „herses, duo“ nicht alle gleichzeitig auf die B�… | |
passen. Ein Teil des Publikums sieht zuerst die beiden Stücke von Boris | |
Charmatz, im Anschluss sehen alle gemeinsam „Café Müller“, danach geht es | |
für die zweite Schicht auf die Bühne, zu „Aatt enen tionon“ und „herses, | |
duo“. | |
„Ich habe gedacht: Vielleicht kann man einen Abend rund um die Liebe | |
machen, rund um das, was zwischen Menschen liegt“, erklärt der 50-jährige | |
Charmatz im persönlichen Gespräch mit der taz. Das Thema komme in allen | |
drei Stücken vor: „Es gibt ganz sicher Liebe, aber es ist auch kompliziert. | |
Wie bei,Café Müller': Das Paar kommt irgendwie zusammen, aber das ist nie | |
einfach“, sagt Boris Charmatz. | |
„Café Müller“ von 1978, das traditionell mit Pina Bauschs „Frühlingsop… | |
gezeigt wurde, wirkt an diesem Abend verändert – vielleicht jünger, freier. | |
Bei der Frage, warum es anders erscheint, lächelt [2][Boris Charmatz]. Der | |
künstlerische Leiter hofft auf eine sichtbare Veränderung, weil nun jüngere | |
Künstler*innen das wichtige Stück von Pina Bausch tanzen und dem | |
Bestehenden etwas Neues hinzufügen. | |
## Sie entgleitet ihm | |
In dem Werk hallen die Themen und Bilder lange nach: Wenn eine Tänzerin von | |
einem Mann auf den Arm eines Anderen gelegt wird, es in der Beziehung die | |
Hilfe eines Dritten braucht, dann scheint nicht zu halten, was entsteht – | |
sie (Emily Castelli) entgleitet ihm (Milan Nowoitnick Kampfer), oder er | |
lässt sie immer wieder fallen? | |
Schließlich klatschen sich beide gegen die Wand, während Tsai-Wei Tien in | |
Mantel, Perücke und Pumps durch das Café trippelt und vergeblich die | |
Zuneigung von Männern (Reginald Lefebvre, Nicholas Losada) sucht. Naomi | |
Brito – wie Pina Bausch, als sie noch lebte – wandelt mit geschlossenen | |
Augen im Hintergrund, wirkt wie die Personifizierung des Cafés, in dem | |
Beziehungen entstehen, in dem sich alles wiederholt und doch verändert, in | |
dem das Leben spielt, und das durch die berühmte Drehtür aber auch von der | |
Außenwelt getrennt ist. | |
Um Trennung geht es bei dem Stück „Aatt enen tionon“ aus dem Jahr 1996, f�… | |
das das Publikum bei Musik von PJ Harvey einen Kreis um einen dreistöckigen | |
kargen Turm aus Holz und Metall auf der Bühne bildet. Ganz unten wärmt sich | |
Simon Le Borgne auf, in der Mitte Dean Biosca und ganz oben Letizia | |
Galloni. Als die Musik ausgeht, ziehen sie ihre Hosen aus, behalten ihr | |
weißes T-Shirt aber an. Den freien Blick auf Scham und Hintern kennt das | |
Wuppertaler Publikum in dieser Form nicht von Pina Bausch. | |
Auf jeder Etage tanzt eine Person, allein, in der Stille – doch das | |
Publikum sieht die drei in einer Einheit. „Ganz nackt zu sein, ist das | |
Paradies, Garten Eden, Freiheit – halbnackt zu sein trennt den Körper“, | |
erklärt Boris Charmatz. Dieses Stück zu tanzen, sei überhaupt nicht leicht, | |
denn man bekomme kaum mit, was auf den anderen Etagen passiert. Auch für | |
das Publikum ist es nicht einfach, den kraftvollen, manchmal gar brutalen | |
Bewegungen der Tänzer*innen so nah zu kommen – gebannt von dem, was sie | |
sehen, scheinen aber alle zu sein. | |
## Nackt auf die Bühnenmitte | |
Zu einem harmonischeren, doch keinem leichten Abschluss kommt der Abend mit | |
„herses, duo“, für das der künstlerische Leiter an der Seite von Johanna | |
Elisa Lemke nackt die Bühnenmitte betritt. Tanzend greifen sie ineinander, | |
wenn sie bei sphärischer Musik über den Boden rollen, wenn sie für ihn oder | |
er für sie den Grund bilden, wie der Choreograf es beschreibt. So trägt sie | |
ihn im Kreis durch den Raum, er legt sie seitlich über seinen Kopf. Die | |
Bewegungen und Bilder erklären Begehren und Verlangen mitunter besser, als | |
Worte es können. | |
Boris Charmatz, der Tänzer, steht auch auf der Bühne, wie Pina Bausch es | |
auch in „Café Müller“ tat. Seit ihrem Tod im Jahr 2009 hat es fünf | |
Leitungen des Tanztheaters in Wuppertal gegeben. „Künstlerischer Leiter zu | |
sein, ist nicht leicht“, sagt Charmatz. Vielleicht hilft es, dass das | |
Ensemble [3][stark in das Erbe von Pina Bausch involviert ist]. „Wir sind | |
wie ein schweres Boot – wir sind beladen, aber wir bewegen uns“, erklärt | |
er. | |
Und zieht symbolisch das Wuppertaler Schauspielhaus heran, das zurzeit leer | |
steht und in den kommenden Jahren zum Pina-Bausch-Zentrum umgebaut wird: | |
„Das Schauspielhaus bleibt, es ist ein Architekturjuwel, aber es wird auch | |
anders.“ Veränderung, die aus der Zusammenarbeit zwischen NRW und | |
Nordfrankreich, zwischen der Pina-Bausch-Stiftung, dem Tanztheater und dem | |
zukünftigen Pina-Bausch-Zentrum entsteht. Das braucht viel Zeit. Und die | |
bringt Boris Charmatz mit. | |
28 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Alina Komorek | |
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