# taz.de -- Choreografie von Pina Bausch: Rau und sensibel zugleich | |
> In Wuppertal interpretieren die Tänzer:innen der École des Sables aus | |
> Senegal Pina Bauschs „Frühlingsopfer“. Ein Stück Tanzgeschichte lebt | |
> weiter. | |
Bild: „Das Frühlingsopfer“ getanzt von der L'Ècole des Sables | |
Das Café Müller gibt es in Solingen längst nicht mehr. Einst trafen sich | |
dort die Ensemblemitglieder von Pina Bauschs Tanztheater. Das Café war | |
verlängerter Probenraum und Lebensort der Compagnie, die immer mehr war als | |
nur ein Tanz-Ensemble. Und ein Ort, der sich zur Bühne zurückverwandelte, | |
denn vor 45 Jahren gab die Choreografin einem ihrer Stücke den Titel „Café | |
Müller“. Das reale Café Müller ist verschwunden, Pina Bauschs legendäre | |
Choreografie lebt weiter. | |
In einer Neueinstudierung eröffnet sie nun einen dreiteiligen Abend, der | |
sich als Beitrag zur Vorbereitung des Bausch-Zentrums versteht und | |
gemeinsam von der Pina Bausch Foundation und dem Tanztheater Wuppertal | |
veranstaltet wird. [1][Seit Bausch 2009 völlig überraschend starb,] | |
stellten sich drängende Fragen nach der Zukunft ihres Erbes und ihrer | |
Compagnie, es gab Turbulenzen und Krisen, derweil die Compagnie mit Bauschs | |
Kreationen weiter um den Erdball tourte. | |
Im September 2022 hat der [2][französische Choreograf Boris Charmatz] die | |
Leitung des Tanztheaters übernommen, vorher hatte es binnen fünf Jahren | |
drei Intendanzen gegeben. Von Charmatz verspricht man sich einerseits eine | |
Lösung der Frage nach zeitgenössischen Impulsen, die ein fruchtbares | |
Verhältnis zum großen Erbe finden, und zum anderen eine Konsolidierung. | |
An dem aktuellen Dreiteiler verantwortet er dessen Kombination. Die hat es | |
in sich. Denn sie fügt sich nur knirschend. Was erstaunlicherweise am | |
ersten Teil, eben jenem „Café Müller“ liegt. Denn die poetische Kraft | |
dieser Produktion wirkt nach wie vor, und doch scheint sie eigentümlich aus | |
der Zeit gefallen. Wie ein Max-Ophüls-Film, hinreißend schön, aber: Was | |
machen die da eigentlich? | |
## Traum, Panik, Missverstehen | |
Bei der Uraufführung war es Pina Bausch selbst, die sich barfuß auf die mit | |
Stühlen und Tischen vollgestellte Bühne tastete, im weißen Hemd, die | |
schmalen Arme nach vorne gestreckt, die Handflächen geöffnet. Heute ist es | |
(in der Zweitbesetzung) Emily Castelli, die sich so verletzlich mit | |
geschlossenen Augen in das dunkle Café hereinschiebt wie eine | |
Traumtänzerin. Doch dann stößt sie an Stühle, Tische, knallt wie ein | |
panisches Insekt an Plexiglaswände. | |
Eine zweite Schlafwandlerin entert die Bühne, es kommen Männer im Anzug | |
dazu, die Kollisionen verhindern wollen, Stühle polternd beiseiteschieben. | |
Dann gibt es versuchte Umarmungen, Stürze, wieder Umarmungen, aber zwischen | |
den romantischen weißen Frauen und den eifrigen Männern geht alles schief, | |
keine Geborgenheit, bloß Missverständnisse. Eine trippelnde Frau im | |
giftgrünen Kleid versucht immerfort, die Beziehungen zu ordnen. Aber auch | |
das klappt nicht. | |
Zu diesen Vergeblichkeiten tönt Barockes aus dem Orchestergraben: Patrick | |
Hahn dirigiert Musik von Henry Purcell, Ralitsa Ralinova singt betörend. | |
Der Kampf der Geschlechter war Bauschs zentrales Thema, in Sachen | |
Emanzipation hat sie sich jedoch nicht vereinnahmen lassen, wenn überhaupt, | |
dann als Verfechterin einer grundsätzlicher verstandenen Emanzipation von | |
den Zwängen des Menschseins. Und doch wirkt das Frauenbild in „Café Müller… | |
antiquiert. | |
## Brücke über die Kontinente | |
Es folgt mit „Common Ground(s)“ ein Duo zweier Gigantinnen des Tanzes: Die | |
Choreografinnen und Tänzerinnen Malou Airaudo und [3][Germaine Acogny], 75 | |
und 78 Jahre, zeigen eine ebenso poetische wie majestätische Performance | |
und schlagen wie selbstverständlich eine Tanztheater-Brücke über Kontinente | |
hinweg. Am Anfang sitzen sie vor einem rotgoldenen Prospekt auf zwei | |
Hockern und halten gemeinsam einen langen Stab fest. Die Musik, diesmal vom | |
Band, beginnt mit harten Trommelschlägen. | |
Malou Airaudo war eine der wichtigsten Protagonistinnen von Bausch, | |
Germaine Acogny lernte in Paris und leitet seit über 25 Jahren im Senegal | |
das Tanzzentrum L’Ecole des Sables. Die Bühnenpräsenz beider ist imposant, | |
in bodenlangen Gewändern tanzen sie, singen, reden, hantieren mit dem Stab, | |
klopfen mit den Füßen Rhythmen. Eine schlichte, in ihrer puristischen | |
Universalsprache an den Theatermagier Peter Brook erinnernde Performance, | |
die großen Jubel erntet. | |
Der sich nach dem dritten Teil des Abends – dem Hauptteil – zum Orkan | |
steigert. Denn der bietet Pina Bauschs Strawinsky-Deutung „Le Sacre du | |
Printemps“ in einer Neueinstudierung mit dem afrikanischen Ensemble von | |
Germaine Acognys École des Sables. Nun tönt es wieder live aus dem | |
Orchestergraben, Patrick Hahn spitzt das musikalische Geschehen scharf zu. | |
## Ohne Ehrfurcht vor der Legende | |
Strawinskys Werk schockiert noch heute. Bausch erfand dazu bereits 1975 | |
ihre wohl packendste Choreografie, die bis heute – im Gegensatz zu „Café | |
Müller“ – als zeitlos gelten darf. Zumal die Tänzer:Innen der École des | |
Sables sich mit schonungsloser Radikalität dieser Arbeit ausliefern, ohne | |
in Ehrfurcht vor der Legende zu erstarren. | |
Im Gegenteil, ganz unverblümt rau, sozusagen mit Street Credibility geht | |
das athletisch muskulöse Ensemble mit äußerster Präzision ans Werk, da wird | |
nichts parfümiert mit Erinnerungen an klassische Tanz-Traditionen. Brutal | |
und zugleich unendlich sensitiv wird das Unvorstellbare, das Menschenopfer | |
umkreist. Dumpfe Gewalt, Raserei der Massen, Ekstase der Lebensenergie: All | |
das bricht einer Naturgewalt gleich aus dem Ensemble heraus. Phänomenal. So | |
sollte es weitergehen. | |
27 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Regine Müller | |
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