# taz.de -- Tanztheater mit Kindern: Wie Fleisch am Haken | |
> Mit „enfant“ bringt Boris Charmatz ein beunruhigendes Stück an die | |
> Volksbühne Berlin. Es dreht sich zentral um die Passivität der Muskeln. | |
Bild: Die Kinder werden in „enfant“ von den Tänzern getragen | |
Schlafen sie, träumen sie? Leben sie oder sind sie schon gestorben? Stehen | |
sie unter Drogen? In „enfant“, einem Tanzstück von Boris Charmatz, erlebt | |
man einen beunruhigenden Zustand von Passivität und Spannungslosigkeit | |
aller Muskeln. Erst sind es die Körper von zwei, drei Tänzern, die von | |
Maschinen bewegt werden wie Fleisch am Haken. Dann sind es 15 kleine | |
Kinder, die von 9 TänzerInnen wie Puppen hin- und her geschoben werden. | |
Der Choreograf Boris Charmatz erweist sich als Meister großer Ambivalenz in | |
diesem Stück, das erstmals 2011 herauskam und nun mit Berliner Kindern neu | |
einstudiert wurde. Denn was man sieht, ist alles von großer Sanftheit, | |
Leichtigkeit und Fürsorglichkeit: Wie die TänzerInnen die Kinder tragen und | |
heben, sich über die Schulter und auf den Bauch legen, an Fuß- und | |
Handgelenken gepackt im Kreis fliegen lassen, mit ihnen über den Boden | |
rollen, ihre Arme und Beine wie die von Marionetten bewegen. Wie | |
vertrauensvoll die Kinder sich ihnen überlassen, ist erstaunlich und | |
unheimlich zugleich, weil sie auch so willenlos scheinen. | |
Im Kopf läuft ein anderer Film mit, voll von gefährlichen, skandalisierten | |
Bildern einer bedrohten Kindheit. Wie Phantome durchdringt das Wissen über | |
Pädophilie, Gewalt gegen Kinder und Meldungen von Kindern, die auf den | |
Routen der Migration von ihren Eltern getrennt werden, was man auf der | |
Bühne sieht. | |
Bei einer der letzten Proben vor der Premiere am 21. Juni konnte ich | |
zuschauen, alles war schon weit entwickelt, nur die Applausordnung am Ende | |
noch nicht. Wie entfesselt die Kinder da losrasten, wild und ausgelassen, | |
erleichtert, es geschafft zu haben und voller Stolz auf ihre Arbeit | |
durcheinander wuselten, ließ noch einmal aufblitzen, was es bedeutet haben | |
muss, sie zum Mitspielen in ihren passiven Rollen zu motivieren. Ein Junge | |
wirft sich dem Choreografen in den Arm, der wird beinahe sprachlos vor | |
Überraschung. | |
Drei Stunden am Tag konnte geprobt werden, erzählt Boris Charmatz, die | |
Hälfte der Zeit galt Aufwärmen, Spaß an der Bewegung finden, sich gut | |
fühlen, das Ensemble kennenlernen. Wichtig war auch, den Kindern das Stück | |
und Tanz zu erklären. Können sich sechs- bis siebenjährige Zappelphilippe | |
mehr als zwanzig Minuten lang in innere Ruhe versenken und das mit Freude | |
und als Tanz verstehen? Geht nicht, denkt man, aber das Stück zeigt, es | |
geht doch. Es verändert sich dabei nicht nur das Bild davon, was Tanz sein | |
kann, sondern auch davon, was Kindheit ist. | |
Als Boris Charmatz im September 2017 mit einem großen Tanzfest und vielen | |
Berliner Gruppen auf dem Tempelhofer Feld die erste Spielzeit von Chris | |
Dercon eröffnete, war geplant, dass die Volksbühne für fünf Jahre zum | |
Schwerpunkt seiner Arbeit wird. Der charmante Franzose, der fließend | |
Deutsch spricht, erzählte damals von seinen Schulferien, die er in Berlin | |
verbracht hatte, von einem deutschen Großvater, der von den Nazis verfolgt | |
wurde, von der Kindheit seiner Eltern während des Zweiten Weltkriegs. Er | |
freute sich auf Berlin. | |
Nun wird „enfant“ das letzte Stück sein, das er hier neu produziert. Dass | |
er gerade diese Produktion für Berlin auswählte, hat auch mit seiner | |
Kindheit zu tun. Sie war manchmal, so erzählt er, überschattet von einer | |
Angst, die noch aus den Erfahrungen seiner Eltern stammte, dass gleich – er | |
wuchs in der Schweiz auf – die feindlichen Deutschen einmarschieren und ihn | |
holen kommen. | |
Dass Chris Dercon und Marietta Piekenbrock im April gehen mussten, dass es | |
keine weiteren Zukunftspläne für ihn und die assoziierten Tänzer gibt, kann | |
nur eine große Enttäuschung sein. Eine lange, anstrengende Phase der | |
Unsicherheit liegt hinter ihm, ständig im Zweifel, ob die Entscheidung für | |
Berlin auch funktionieren wird. | |
Boris Charmatz nennt Dercons vorzeitigen Abschied ein Trauma für alle, für | |
die Stadt, für die Volksbühne, für die Künstler vor allem. Ein Trauma, das | |
noch nicht verdaut ist und ein düsteres Licht auf den Umgang mit | |
ausländischen Künstlern wirft. Sie gehören sicherlich zu den Leidtragenden | |
des zurückliegenden Schlingerkurses rund um die Volksbühne. | |
22 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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