| # taz.de -- Castorf inszeniert Klassiker in München: Liberté, Egalité, Sexua… | |
| > In Frank Castorfs Version des „Don Juan“ am Münchner Residenztheater | |
| > bröckelt sehr unterhaltsam die Männlichkeit. | |
| Bild: „So Tell the Girls that I Am Back in Town“ | |
| Don Juan, der berühmteste Womanizer der Literaturgeschichte, hat schon | |
| viele Dichter und Komponisten beschäftigt, das bekannteste Drama stammt von | |
| Molière und ist bereits unfassbare 353 Jahre alt. Dieser Adlige aus dem | |
| Barock, der auf Sizilien reihenweise Frauen verführt und am Ende in der | |
| Hölle landet, ist ein faszinierend abgründiger und hochmoderner Charakter. | |
| Zyniker, Freigeist, Erotomane – er rebelliert gegen gesellschaftliche | |
| Konventionen, leugnet die Existenz Gottes und missbraucht seinen | |
| privilegierten Status zur Libertinage. | |
| Was kann man diesem Frauen vernaschenden Antihelden in #MeToo-Zeiten noch | |
| abgewinnen? Eine ganze Menge, wie Regisseur Frank Castorf an diesem | |
| erhellenden und philosophisch anregenden Theaterabend beweist. Bereits zum | |
| fünften Mal inszeniert Castorf am Münchner Residenztheater. Und das | |
| Publikum feiert ihn am Ende begeistert. Vier Stunden lang – für | |
| Castorf-Verhältnisse also gar nicht mal so lang, aber der Originaltext von | |
| Molière ist ja auch nur 70 Reclam-Seiten lang – fühlt man sich in der Tat | |
| bestens unterhalten. | |
| Seinem Ruf als „Stückezertrümmerer“ wird der ehemalige | |
| Volksbühnen-Intendant insofern gerecht, als er die Chronologie des Stückes | |
| komplett umstellt; aber die für Castorf typischen dadaesken Leerläufe | |
| vermisst man an diesem Abend fast völlig. Langeweile kommt keine Minute | |
| auf. | |
| Es dominieren streckenweise ruhige, textlastige Passagen. Sie explodieren | |
| dann naturgemäß immer wieder in Momenten des Exzesses. Dann kann sich das | |
| Ensemble auf Aleksandar Denićs genialer Drehbühne austoben, ein pompöses, | |
| mehrstöckiges Kunstwerk aus Satin-Schlafzimmer, Louis-Vuitton-gebrandetem | |
| Klohäuschen, Ziegenstall und kerzenbeleuchteter Tafel. | |
| ## Ladykiller im Gehrock | |
| Eine der bemerkenswertesten Erkenntnisse dieses Abends: Es geht erstaunlich | |
| unerotisch zu. Okay, ein paar zahme Küsse werden getauscht, von Mann und | |
| Frau oder auch mal Mann und Mann, eine nackte Frauenbrust wird gekniffen, | |
| ein paar Mal fällt das Wort „Schwanz“ und „wichsen“, ein matschbesudel… | |
| Frauenfuß wird abgeleckt, aber alles bleibt zahm. Vielmehr wird der | |
| Zuschauer Zeuge einer Erosion der Männlichkeit. | |
| Denn im Grunde ist dieser Don Juan ein ziemlich mickriger Typ. Seine | |
| Lebensphilosophie ist frei nach Blaise Pascal nicht mehr als eine | |
| narzisstische Selbsttäuschung: „Die Zerstreuung ist das Einzige, was uns | |
| über unser Elend hinwegtröstet, und dabei ist sie doch unser größtes Elend. | |
| Die Zerstreuung verschafft uns Amüsement und bewirkt, dass wir, ohne es zu | |
| merken, zu Tode kommen.“ | |
| Ein smarter, zufällig entstandener Schachzug, dass Castorf – er konnte sich | |
| angeblich nicht entscheiden, wem er die Rolle geben soll – die Figur des | |
| Don Juan mit zwei Schauspielern besetzt hat, wie sie unterschiedlicher | |
| nicht sein könnten: Der blonde, androgyne, gut aussehende Frank Pätzold, | |
| überhaupt der beste Darsteller dieses Abends, trifft auf seinen | |
| animalischen Antagonisten in Gestalt des virilen Aurel Manthei. Am Anfang | |
| trumpfen beide noch als coole Ladykiller in Gehrock und Sonnenbrille auf. | |
| Doch bald wälzt sich die Titelfigur albtraumgeplagt in den Laken des | |
| Separees oder ertränkt den Ennui ihrer Existenz in Rotwein. | |
| ## Balzverhalten wird ad absurdum geführt | |
| Zu Thin Lizzys Glamrock-Klassiker „The Boys Are Back in Town“ zerbricht das | |
| vordergründige Mackertum dann endgültig. Wenn Pätzold und Mantei nackt bis | |
| auf weiße, halterlose Strümpfe als doppelter Don Juan das Bauernmädchen | |
| Charlotte (Nora Buzalka) umgarnen, wird ihr Balzverhalten ad absurdum | |
| geführt. Und noch ein Element treibt den Niedergang aggressiver | |
| Männlichkeit voran: Das Narrativ der verführten Frau als Opfer wird | |
| durchbrochen. | |
| Bibiana Beglaus Elvira, Don Juans Liebschaft, die ihn erfolglos zur | |
| Monogamie bekehren will, erzürnt sich widerspenstig-kämpferisch im | |
| pinkfarbenen Feder-Mini und High Heels, bis sie Rache schwört: „Fürchte den | |
| Zorn einer gedemütigten Frau.“ Farah O’Bryant stolziert ebenfalls | |
| selbstermächtigt als Mathurine, eine weitere von Don Juans Eroberungen, im | |
| Kostüm einer Sambatänzerin durch die Szenerie. | |
| Doch nicht Elviras Zorn, sondern der des Komturs, eines von ihm ermordeten | |
| Mannes, wird ihm schließlich zum Verhängnis. Am Ende ist Don Juan tot. Aber | |
| das ist kein großes Drama, denn zum Schluss heißt es: „Das ist der Beginn | |
| einer wunderbaren Liebe.“ | |
| Zum Finale dann hört man Jay Jay Johansons sentimentale Ballade „So Tell | |
| the Girls that I Am Back in Town“, die zum Vibe der Inszenierung passt: „I | |
| could be your friend, I could be your stranger, I could be the one your | |
| mother said would be your danger, now it’s up to you“. Ein schönes | |
| Schlusswort für einen gelungenen Theaterabend. | |
| 2 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Annette Walter | |
| ## TAGS | |
| Frank Castorf | |
| Theater | |
| Berliner Volksbühne | |
| Frank Castorf | |
| Sexismus | |
| Berliner Volksbühne | |
| Berliner Volksbühne | |
| Berliner Volksbühne | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kommentar Castorf und Feminismus: Mehr als alte Sackhaftigkeit | |
| Frank Castorfs Theaterarbeit ist wesentlich vielfältiger und ambivalenter | |
| als das pauschale chauvinistische Bild, das jetzt von ihm entworfen wird. | |
| Offener Brief an Frank Castorf: Schluss mit der Arschlochhaftigkeit | |
| Nach Castorfs sexistischen Aussagen hat Simone Dede Ayivi den offenen Brief | |
| an ihn unterzeichnet. Sie findet diese bezeichnend für Theaterstrukturen. | |
| Volksbühne Berlin nach Chris Dercon: Die Zwischenzeit hat begonnen | |
| Nach dem Rücktritt von Intendant Dercon steht die Volksbühne ohne viel | |
| Programm da. Viele deutsche Theater helfen aus – mit Gastspielen. | |
| Tanztheater mit Kindern: Wie Fleisch am Haken | |
| Mit „enfant“ bringt Boris Charmatz ein beunruhigendes Stück an die | |
| Volksbühne Berlin. Es dreht sich zentral um die Passivität der Muskeln. | |
| Dercons Abtritt von der Volksbühne: Kritik und Zermürbung | |
| Chris Dercon, Intendant der Volksbühne in Berlin, muss gehen – noch vor | |
| Ende der Spielzeit. Eigene Fehler und Feindschaften führten dazu. |