# taz.de -- Dercons Abtritt von der Volksbühne: Kritik und Zermürbung | |
> Chris Dercon, Intendant der Volksbühne in Berlin, muss gehen – noch vor | |
> Ende der Spielzeit. Eigene Fehler und Feindschaften führten dazu. | |
Bild: Der Berliner steht mal wieder da und staunt | |
Chris Dercon tritt zurück. Dass der neue Intendant der Volksbühne in Berlin | |
mit sofortiger Wirkung aufhören werde, wurde nicht aus dem Theater | |
gemeldet, sondern am Freitagmorgen vom Berliner Kultursenator Klaus | |
Lederer. | |
Geahnt hat man das noch nicht am Donnerstagabend bei der Premiere von „What | |
if Women Ruled the World“ von Yael Bartana in der Volksbühne. Die | |
Künstlerin, die oft an den Schnittstellen von bildender Kunst, Performance | |
und Film arbeitet, setzte Schauspielerinnen und sogenannte Expertinnen, die | |
aus politischen Organisationen und Medien kamen, an einen großen runden | |
Tisch, um über die Möglichkeiten der Deeskalation in einem bewaffneten | |
Konflikt nachzudenken. Das Setting war fiktional, aber wies viele | |
Parallelen zur Gegenwart auf. Ein politisch anspruchsvolles Format, das | |
trotz der klugen Köpfe auf der Bühne enttäuschte. Viele vernünftige | |
Argumente, aber keine Emotionen, eine akademische und abstrakte Sprache, | |
aber keine Spannung. Kein Möglichkeitsraum öffnete sich, gerade das wäre | |
aber entscheidend gewesen. | |
Kein Theater eben, wie schade doch in diesem großen, schönen Saal, dachte | |
man hinterher, im Foyer am Bier nuckelnd. Und weil man dies zu oft gedacht | |
hatte bei den Premieren der ersten Spielzeit von Dercon und seiner | |
Programmdirektorin Marietta Piekenbrock, kam die Meldung des Endes von | |
Chris Dercon nicht überraschend. | |
Die Kritik am Spielplan von Dercon ist [1][in vielen Teilen] berechtigt; zu | |
wenig eigene Premieren gab es, zu oft stand das Haus leer. Das führte auch | |
zu massiven Einnahmeverlusten aus Kartenerlösen, wie eine Recherche von | |
RBB, NDR und SZ ergab. Einige Inszenierungen und Formate überzeugten nicht, | |
aber es gab unter den Arbeiten von Choreografen und Regisseuren auch | |
interessante Projekte. Die Kritik an den ästhetischen Ansätzen wurde aber | |
überstrahlt von Stimmungsmache in der Stadt gegen Dercon, oft mit unfairen | |
Mitteln. Die kritisierte auch Kultursenator Klaus Lederer in seiner | |
Mitteilung und betont, „dass die persönlichen Angriffe und Schmähungen aus | |
Teilen der Stadt gegen Chris Dercon in der Vergangenheit inakzeptabel | |
waren“. Wie er beschimpft wurde, dafür muss sich eine Stadt, die | |
international sein will, auch schämen. | |
## Neues Nachdenken über Identitäten | |
Noch vor Kurzem hofften Dercon und sein Team, in der zweiten Spielzeit | |
einige ihrer Fehler korrigieren zu können. Es gibt in der Geschichte großer | |
Theaterhäuser in Deutschland einige Beispiele von Intendanten, die ein, | |
zwei Spielzeiten gegen einen konservativen Theaterbegriff kämpfen | |
mussten, bevor sie sich mit ihren Künstlern durchsetzten konnten und dann | |
dafür geschätzt wurden: Frank Baumbauer, der die Kammerspielen München von | |
2001 bis 2009 leitete, steht dafür. Die Chance einer zweiten Spielzeit | |
erhält Dercon nicht. | |
Positiv an seinem Projekt Volksbühne konnte man sehen, oder sehe ich, dass | |
er mehr Frauen an das bis dahin von Männern dominierte Haus holte, darunter | |
die Choreografin Mette Ingvartsen oder die Regisseurin Susanne Kennedy. | |
Positiv war auch, dass mit den choreografischen Stücken von Jérôme Bel, | |
Boris Charmatz oder Ingvartsen eine Art Tanz, die nach sinnlichen | |
Reflektionsformen für gesellschaftliche Veränderungen sucht, eine große | |
Bühne in der Stadt erhielt. Positiv war, dass sich mehrere Projekte für | |
eine Beteiligung anderer Kunstszenen der Stadt öffneten. | |
Auch inhaltlich konnte man zwischen Tanz- und Theaterstücken etwas | |
entstehen sehen, ästhetische Formen des Nachdenkens über das, was mit der | |
Identität geschieht in Zeiten zunehmenden Drucks der Arbeit am Selbst, wenn | |
das Image wichtiger ist als das Sein. Das war nicht unbedingt so neu, wie | |
es Dercon gerne verkauft hätte, aber dennoch ein alternativer Ansatz zu | |
vielen in der Stadt vorhandenen Schauspielweisen. | |
Womit aber auch einherging, dass diese Theaterformen eher kein Ensemble | |
brauchten, kein attraktives Rollenangebot für SchauspielerInnen hatten. | |
Wieder ein Ensemble aufzubauen gehörte aber zu dem, was die Volksbühne laut | |
ihrem Auftrag hätte tun sollen. Dass sich dies nicht mit den Konzepten | |
vertrug, wurde nicht offen zugegeben. Das war ein großer Fehler, der auch | |
renommierte Theaterleute gegen Dercon aufbrachte. | |
## Mit Vorurteilen operiert | |
Zu den Theatermachern, die Dercon unterstützten, gehört Matthias | |
Lilienthal. Der ist an den Münchner Kammerspielen noch bis 2020 Intendant | |
und ein oft genannter Kandidat, wenn es um den nächsten | |
Volksbühne-Intendanten geht. In München machte er in drei Spielzeiten | |
selbst die Erfahrung, mit einem Nebeneinander von Theaterkonzepten | |
Ablehnung zu begegnen. Die CSU-Stadtratsfraktion wollte seinen Vertrag | |
nicht verlängern. Dagegen gibt es Proteste, auch einen offenen Brief, der | |
gestern dem Stadtrat überreicht wurde. Über 300 Theater- und Museumsleiter, | |
Kuratoren, Künstler und Wissenschaftler unterschrieben. Sie sehen einen | |
künstlerischen Aufbruch beendet und fürchten eine neue Rückwärtsgewandtheit | |
in der Kulturpolitik. | |
Die Kritik an Chris Dercon als Volksbühne-Leiter speist sich auch aus | |
hartnäckigen Vorurteile gegen ihn [2][als Vorreiter von Neoliberalismus und | |
Gentrifizierung]. Damit operierten auch die Besetzer der Volksbühne, von | |
denen ein Teil weiter gegen ihn intrigierte, dem Haus Künstler abspenstig | |
machen wollte, eine politische Front konstruierte, die es so nie gab. An | |
ihre offene und als politisch verkaufte Gegnerschaft dockten wiederum | |
andere Kritiker an, die vor allem keine Ausweitung des Theaterbegriffs | |
wollen und dafür ausgerechnet Frank Castorf zu ihrem Schutzheiligen | |
erkoren. Dass diese Seite nun ihren Sieg feiert, ist traurig und spricht | |
nicht für Offenheit. | |
Die Volksbühne hatte gerade einen neuen geschäftsführenden Direktor | |
bekommen, Klaus Dörr. Er soll, so die Ansage des Kultursenators Klaus | |
Lederer, kommissarisch die Geschäfte des Intendanten übernehmen. In | |
Stuttgart und zuvor am Maxim Gorki Theater in Berlin hat er mit Armin | |
Petras gearbeitet, der Stuttgart nach dieser Spielzeit verlassen will. So | |
gilt auch Petras als möglicher Kandidat. | |
13 Apr 2018 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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