# taz.de -- Dercon an der Berliner Volksbühne: Was es zu sehen gab, war gut, a… | |
> Das ganz große Drama fand 2017 rund um die Berliner Volksbühne statt. Ein | |
> Zwischenresümee der ersten Dercon-Spielzeit. | |
Bild: Dercon-Eröffnungsstück: Einakter von Samuel Beckett und Arbeiten von Ti… | |
Es gibt keine Stars mehr, nur noch Kollektive. Das Individuum verschwindet, | |
taucht ab hinter einer Maske, wird anonymisiert in der Masse. Das Leben ist | |
eine Karaokeshow, die Formen geliehen, Gesten und Sätze sind Zitate. Kunst, | |
die sehr arm aussieht, kostet besonders viel. | |
Das ist kein Manifest, nein, das ist eine Bilanz der ersten Spielzeithälfte | |
der Volksbühne Berlin unter Chris Dercon, des holprigen Anfangs seiner | |
Intendanz. Es ist eine düstere Farbe, die dieses Theater in seinen Tanz- | |
und Theaterstücken trägt. Denn in den Konzepten der Verneinung, der | |
Verweigerung der Opulenz auf der Bühne, dem Unterlaufen von Erwartung an | |
Spannung, dem Markieren von Konventionen als nicht notwendiger | |
Voraussetzung für die Kunst, passt, was seit dem 10. September zunächst auf | |
dem Tempelhofer Feld und dann im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz gezeigt | |
wurde, sehr gut zusammen. | |
Künstlerisch eigentlich ein starkes Statement gegenüber der Gegenwart, | |
ihrer Produktion von Aufgeregtheit, dem Hunger nach Aufmerksamkeit, der | |
schnell durch das Dorf gejagten Sau. All das ist hier nicht zu finden. Wäre | |
diese Kunst eingewoben in einen dichten Spielplan, fänden sich neben ihr | |
auch andere Töne, dem Programm wäre Lob sicher. Aber das ist eine müßige | |
Überlegung. Denn genau dieses „neben“ existiert nicht, dafür viele | |
Schließtage. | |
Was aber gezeigt wurde, ist teils von großem Charme und wirbt um die | |
Zuschauer mit Zuneigung. Das gilt für das Fest am Anfang, den Tanz auf dem | |
Tempelhofer Feld, vom Choreografen Boris Charmatz initiiert, mit seinem | |
Ensemble, Gruppen aus der Stadt und dem Publikum. Aus einem ähnlichen Geist | |
gewebt war die letzte Premiere kurz vor Weihnachten, „The Show must go on“ | |
von Jérôme Bel, ebenfalls französischer Choreograf. Auch dieses Stück kennt | |
zwar keine Stars, aber doch die große Sehnsucht danach und einen | |
anschmiegsamen Umgang damit. | |
## Viel Partystimmung, trotz sparsamer Inszenierung | |
Ein DJ legt 19 Popsongs auf, meist gefühlvolle, teils sentimentale Hits, | |
und auf der Bühne führen 25 Performer auf, was man eigentlich als privaten | |
Musikgebrauch kennt, den großen Auftritt im eigenen Wohnzimmer, das | |
gedankenverlorene Mitsingen unter Kopfhörern, das Verausgaben in der Disko. | |
Das hat viel von Partystimmung, obwohl die Inszenierung sehr sparsam ist. | |
Einige Lieder werden auch einfach im Dunkeln abgespielt, bei Simon & | |
Garfunkels „Sounds of Silence“ summt und brummt das Publikum schließlich | |
mit. | |
Gut kam das an, bei einem Publikum, gemischt aus jungen Leuten, alten | |
Volksbühnengängern, für die Jérôme Bel möglicherweise neu war, und denen, | |
die wussten, ja, aber das Stück ist über 15 Jahre alt und schon durch mehr | |
als 30 Städte getourt. Ausgeführt aber jeweils von einer anderen | |
Mannschaft, vor Ort eingesammelten Laien, oft Mitarbeitern des Hauses. | |
Deutlich erkennbar ist der Gedanke, mit diesem Konzeptstück um das Haus | |
selbst, beziehungsweise seinen alten Stamm der vielen Mitarbeiter zu werben | |
und nach außen Versöhnung zwischen Volksbühne alt und neu auszustrahlen; | |
aufgegangen ist das nicht ganz. Viele der Performer waren eher Amateure und | |
Halbprofis, befreundet mit jemand, der Abenddienst oder Kasse macht. In | |
ihrer Unterschiedlichkeit sind sie trotzdem eine starke Mannschaft. | |
Bels Stück arbeitet mit einfachen Mitteln an dem Ausloten der Beziehungen | |
zwischen Identität und Popkultur, vom Finden des Selbst über das Messen an | |
den großen Gefühlsgesten im kollektiven Gedächtnis. Mit dem Zitat, mit der | |
Matrix dessen, was im kulturellen Gedächtnis liegt, hatten auch die | |
Performances der dänischen Choreografin Mette Ingvartsen, die sich auf | |
Sexualität und Pornografie bezog, und das Stück von Susanne Kennedy zu tun, | |
das sich um Krankheit und die Reduktion auf das Leben als Kunde in einer | |
verkaufsfreudigen Gesellschaft drehte. | |
Bei beiden Regisseurinnen geht es um den Körper als einen von vielen | |
Vorstellungen (aus Kunst, Trash, Genderkonstruktionen, Sozial- und | |
Sexualgeschichte) besetzten und geprägten Ort. Beide benutzen Masken, | |
hinter denen die Darsteller verschwinden und unter denen die | |
Austauschbarkeit der Geschichten ihren Ausgangspunkt nimmt. Ihre Tänzer und | |
Schauspieler sind Profis, deren Gesichter man nicht kennenlernt. | |
## Die künstlerischen Konzepte kommen ohne Ensemble aus | |
So rund das Konzept in dieser ersten halben Spielzeit unter der Leitung von | |
Chris Dercon und Marietta Piekenbrock inhaltlich ist, wird eines auch | |
deutlich: Diese künstlerischen Konzepte kommen ohne ein Ensemble aus. Auch | |
wenn die Stücke zum wiederaufgeführten Repertoire werden und damit etwas | |
anderes als einen Gastspielbetrieb darstellen, so sind die ausführenden | |
Künstler für jede Produktion andere. Das ist teuer – aber die Volksbühne | |
hat dafür die Mittel. | |
So wie sie jetzt agieren können, ist ein Luxus unter den Berliner Theatern. | |
Vielleicht auch eine Verschwendung, weil bisher nicht ersichtlich wird, mit | |
was der große Apparat der Gewerke, Bühnenbauer, Techniker, Kostümbildner, | |
dessen Erhaltung hoch und heilig versprochen wurde, jetzt eigentlich | |
beschäftigt ist, bei der oft minimalistischen Ausstattung der Bühne. | |
„Nur über meine Leiche“ stand auf kleinen Schildern, neben denen junge | |
Leute auf den Stufen vor der Volksbühne lagen, als es zu „The Show must go | |
on“ ging. Die Besetzer der Volksbühne, die im September eine Woche lang das | |
Theater zu einem Symbol für verfehlte Stadtpolitik und Konsum statt | |
Teilhabe machten, sind weiter vor dem Haus aktiv. Sie haben ebenso wenig | |
aufgegeben wie eine zweite Gruppe von Protestierern, die Anfang Dezember | |
wieder eine Petition mit mehr als 40.000 Unterschriften im Berliner | |
Abgeordnetenhaus einreichten. | |
Die fordern die politisch Verantwortlichen darin zur Prüfung der | |
Wirtschaftlichkeit auf und resümieren: „Die Volksbühne erhält mit | |
Subventionen von 20 Millionen Euro in diesem Haushaltsjahr die | |
zweithöchsten Zuwendungen aller Sprechtheater Berlins. Gleichzeitig ist sie | |
seit Beginn der Spielzeit unter den professionell betriebenen Theatern das | |
Haus, das mit Abstand die wenigsten Vorstellungen der großen Bühne zeigt.“ | |
## Viel Geld für so wenig aufwendig erscheinende Kunst | |
Das heißt, Chris Dercon, der erst unter den Verdacht gestellt wurde, | |
Speerspitze eines Neoliberalismus zu sein, wird jetzt vorgeworfen, so viel | |
Geld für so wenig aufwendig erscheinende Kunst zur Verfügung zu haben. Bei | |
einer Diskussionsrunde in der Akademie der Künste Anfang Dezember, „Was ist | |
Ensemble-Theater?“, ließen denn auch Shermin Langhoff, Intendantin des | |
Maxim Gorki Theaters, und Ulrich Khuon, der das Deutsche Theater leitet, | |
die beide täglich spielen, oft auf zwei Bühnen, ihren Ärger aus. | |
Falsch gespielt hat in ihren Augen nicht nur die neue Intendanz, indem sie | |
den Aufbau eines Ensembles noch immer als Ziel benennt, das nur jetzt noch | |
nicht zu realisieren sei, sondern auch die Kulturpolitik, die das | |
mitgetragen hat. Tim Renner, Kulturstaatssekretär 2015, der Dercon berufen | |
hat, ist nicht mehr im Amt. Michael Müller, damals auch Kultursenator und | |
immer noch Bürgermeister, äußert sich in der Sache nicht, wie die | |
KollegInnen von nachtkritik.de bei ihren Nachfragen erfahren haben. | |
Vorgeworfen wird Intendanz und Politikern, einen Systemwechsel zu | |
verschleiern, statt offen dazu zu stehen, dass sie eben etwas anderes | |
wollen. | |
„Nur eine tote Volksbühne ist eine gute Volksbühne“, orakelte Frank | |
Castorf, der seine letzte Premiere, „Les Misérables“, am Berliner Ensemble | |
zeigte, zu aller Verblüffung in einem Pressegespräch, nachdem er dem neuen | |
Leitungsteam der Volksbühne Versagen vorgeworfen hatte. Wie das gemeint | |
sei, wollte man wissen: Nun, für die anderen Theater der Stadt seien die | |
vielen theaterfreien Abende an der Volksbühne gewiss ein Gewinn. | |
Das stimmt sicher, zumal nicht nur Castorf selbst, sondern auch andere | |
Regisseure, die an seiner Volksbühne inszenierten, an anderen Häusern | |
weiterarbeiten. Das schönste Stück, das Herbert Fritsch dort inszenierte, | |
„der die mann“ nach den hochgradig komischen Texten von Konrad Bayer, | |
wandert gar als komplette Inszenierung an die Schaubühne, Premiere Ende | |
Januar 2018. | |
31 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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