Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Auftakt der neuen Berliner Volksbühne: Räume jenseits des Sozialen
> Mit Monologen von Samuel Beckett und Performances von Tino Sehgal beginnt
> die Spielzeit der Volksbühne in Berlin. Zuvor gab es viel Streit.
Bild: Anne Tismer in Walter Asmus' Beckett-Inszenierung „Nicht ich“
Ist das mutig oder vermessen, das große Theaterhaus der Berliner Volksbühne
mit einem schauspielerischen Solo wiederzueröffnen? Mit drei Monologen von
Samuel Beckett, in deren hermetischen Sprachlandschaften eine Stimme fast
ohne Körper agiert, kein Ort und keine Zeit greifbar wird, kaum eine
Geschichte, und das Bewusstsein oder Wesen, das man sprechen hört, kaum den
Status eines Subjekts erreicht? Mit Sprache am Nullpunkt, Theater am
Nullpunkt zu beginnen, mit dem Blick von sehr weit weg auf die große Frage,
was ist der Mensch, was macht ihn denn noch aus, wenn man ihm alle
Beziehungen nimmt.
Mit den Monologen von Beckett, ummantelt von Performances von Tino Sehgal,
haben Chris Dercon und seine Programmdirektorin Marietta Piekenbrock nun
endlich, nach einem sehr offenen Vorspiel am alten Westberliner Flughafen
Tempelhof, die Spielzeit im legendären Haus am Ostberliner
Rosa-Luxemburg-Platz begonnen. Mit einem programmatischen und etwas dürren
Ansatz, Theatermagerkost der strengen Sorte.
Nie hat man an diesem Abend das Gefühl, dass das Haus seine gewohnte
Betriebstemperatur erreicht, dass es hinter den Kulissen, auf der Bühne und
in den Köpfen der Zuschauer brummt vor Anstrengung. Nichts erinnert hier an
ein überbordendes Spiel, an ein Überlaufen des Fasses der Ideen. Mehr wie
die Exerzitien eines Reinigungsrituals fühlt es sich an, ein Leerfegen des
Raums, eine langsame Ankunft.
Alles wirkt so aufgeräumt an diesem Abend wie die Foyers, in denen keine
Sofas mehr stehen und kein Bücherstand. Hier laufen im Erdgeschoss, bevor
es mit Beckett im großen Saal losgeht, zwei Kapitel von Tino Sehgals
Beschäftigung mit der Kunstfigur Ann Lee. Sie gehören eher nicht zu Sehgals
stärkeren Arbeiten, sind zu theorielastig und zu wenig von einem eigenen
ästhetischen Zugriff geprägt. Zwei Performerinnen mit dünnen Stimmen, die
schmalen Bewegungen an computergenerierten Figuren angepasst, erzählen vom
Verlangen eines Avatars, zum Individuum zu werden, Kontakt aufzunehmen, zu
erfahren, was Menschsein bedeutet.
## Was bedeutet Menschsein?
Es ist durchaus möglich, zwischen der Kunstfigur Ann Lee und Becketts
Fiktionen Verbindungslinien zu bauen, bewegen sich doch beide durch
posthumanistische Landschaften, Räume jenseits des Sozialen, das eine Mal
befeuert von der Erfahrung der Vernichtung des Menschen in den Kriegen des
20. Jahrhunderts, das andere Mal vom Blick auf die Möglichkeiten der
Technologie.
Auch kann man in Becketts radikaler Reduktion der Bildmittel im Theater,
und auch in seinen Fernseh-Produktionen, von denen zwei im oberen Foyer zu
sehen sind, einen wichtigen Baustein auf dem Weg von Theater zur
Performance-Kunst sehen und ihrer Befragung dessen, was der Raum und die
anderen Mittel des Theaters denn immer schon an Bedeutung in sich tragen.
Das wird besonders im schönen Schlussakt von Tino Sehgal, der Performance
„These associations“, deutlich, als über 40 Performer, nach Beckett,
singend von der Bühne in den Zuschauersaal dringen, die Stühle wieder
abbauen, sich im Raum verstreuen und nach und nach auch das Publikum auf
die Bühne ziehen. Diese Performance, 2012 zum ersten Mal in der Tate Modern
in London aufgeführt, als Chris Dercon dort Direktor war, erhält jetzt die
Funktion einer liebevollen Umarmung von Beckett und einer Hommage an den
Raum. Was zu diesem Zeitpunkt auch dringend nötig wurde, denn die Monologe
allein negieren den Bühnenraum.
Im ersten Monolog, „Nicht Ich“, ist nur ein leuchtender Mund zu sehen in
großen Dunkelheit, die Sinne müssen sich anstrengen, den überstürzt
hervorsprudelnden Text überhaupt zu verstehen, diese hetzend
hervorbrechende Sprache, die kaum ein Bild entstehen lässt, Situationen von
Traumatisierung und Verlassenheit anreißt. Im zweiten Monolog, „Tritte“,
ist die Bühne eine schmale Bahn, auf der Anne Tismer mit abgezählten
Schritten im Dämmerlicht geht, die Sätze, die Mutter und Tochter sprechen,
sind wie eingesperrt in diesem von Erfahrungen geleerten Raum. Im dritten
Monolog, „He, Joe“, wird die Bühne zur Fläche für die Projektion des
Gesichts eines Mannes, der eine Frauenstimme hört. Es geht um das
Entsetzen, den Abscheu vor sich selbst und seinen verdrängten Taten.
## Drei Schrumpfformate
Drei Schrumpfformate, in denen vom Raum nur ein glühender Punkt, eine
dämmrige Linie, eine Projektionsfläche blieb. Dynamisch geschickt, dass
dann die Sehgal-Performer mit ihren sanften Singstimmen und teils
behutsamen, teils energischen Bewegungen den Raum fluten und ein bisschen
mit der spröden Kost versöhnen. Allerdings gab es auch schon ein Vorspiel
(Ohne Titel), die einzig neue Tino-Sehgal-Produktion, während des Einlasses
des Publikums.
Tino Sehgal lebt in Berlin, er war an der Volksbühne in den 1990er Jahren
Mitglied der Jugendtheatergruppe P14 am Haus. Schon deshalb konnte man von
ihm ein mehr auf die Architektur und Geschichte des Hauses zugeschnittenes
Programm erwarten und weniger die Wiederaufführung von Performances, die in
Berlin auch schon in seiner großen Einzelausstellung im Martin-Gropius-Bau
vor zwei Jahren zu sehen waren. Doch die Neuproduktion (Ohne Titel) wirkte
ein wenig wie ein Fake, eine großspurige Behauptung.
Laute elektronische Gitarre pumpte die Räume der Foyers und des großen
Saals mit Erwartung auf, die alten Beleuchtungskörper drinnen und draußen
blinkten, man konnte sehen, alles ist wieder in einen sauberen Zustand
zurückversetzt, kein Asphalt mehr, keine schwarze Verhängung der Paneelen
wie in Castorfs letzten Spielzeiten, einmal senkt sich der Kronleuchter wie
ein Raumschiff. Und das war’s dann.
## Treue und Bewahrung
Was die Inszenierung der Beckett-Stücke angeht, war es einerseits schön,
die Schauspielerin Anne Tismer wieder auf einer großen Bühne zu erleben.
Sie hat die Kraft, selbst flüsternd noch in diesem großen Raum vernehmbar
zu sein. In den neunziger und nuller Jahren war sie ein Star, zuletzt an
der Berliner Schaubühne; sie entschloss sich dann, lieber in kleineren
Kollektiven wie dem Ballhaus Ost zu arbeiten. Ihr Auftritt hat deshalb
etwas von der Rückkehr nach einem Rückzug. Aber man hört eben auch munkeln,
dass andere gefragte KünstlerInnen nicht an Dercons Haus wollten.
Über den Regisseur Walter Asmus lässt sich nicht viel mehr sagen, als dass
er als Spezialist gilt, der seit fast 40 Jahren Beckett inszeniert. Das hat
etwas von Bewahrung und Treue zu des Meisters Intentionen, die auch
befremdlich ist und visuell eher altbacken daherkommt. Und als erster Stein
auf die Waagschale geworfen, mit der Dercon nun bemessen wird, im Vergleich
zum Schwergewicht Castorf, wirklich nicht viel aufbringt. Apropos Stein.
Im Monolog „He, Joe“ spielt der Geschmack von Steinen eine Rolle, eine der
wenigen sinnlichen Empfindungen, die Joe sich vorstellen kann und mit ihm
die Zuschauer. Von der Stimme im Kopf gedrängt, sich die Steine
vorzustellen, die seiner von ihm verlassenen Geliebten bei ihrem dritten
Selbstmordversuch, dem Ertrinken, in den Mund drangen.
12 Nov 2017
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Berliner Volksbühne
Chris Dercon
Berliner Volksbühne
Berliner Volksbühne
Berliner Ensemble
Deutsches Theater
Berliner Volksbühne
Schwerpunkt Syrien
Berliner Volksbühne
## ARTIKEL ZUM THEMA
Dercon an der Berliner Volksbühne: Was es zu sehen gab, war gut, aber…
Das ganz große Drama fand 2017 rund um die Berliner Volksbühne statt. Ein
Zwischenresümee der ersten Dercon-Spielzeit.
Ingvartsen an der Berliner Volksbühne: Gallige Süßigkeiten
Stimulanzen gibt es genug, Schokoloade auch. Die „Red
Series“-Choreographien von Mette Ingvartsen setzen sich mit pornografischer
Kunst auseinander.
Volksbühne und Berliner Ensemble: Premieren auf zwei Bühnen
Castorf-Inszenierung „Les Misérables“ hatte am Freitag Premiere. Am Abend
zuvor zeigte die Volksbühne ebenfalls eine Theaterpremiere.
Uraufführung Deutsches Theater Berlin: Außen nur noch Lügen
„Versetzung“ von Thomas Melle, uraufgeführt im Deutschen Theater, wirkt wie
ein pädagogisches Beistück.
Debatte Volksbühne: Zurück zum Dialog!
Theater ist eine leidenschaftliche Angelegenheit, aber die
Auseinandersetzung über die Berliner Volksbühne ist ohne Maß. Mehr
Sachlichkeit tut not.
Volksbühne-Premiere in Berlin-Tempelhof: Kein Bock auf Flüchtlingsschublade
Am Samstag feierte „Iphigenie“ Premiere. Alle Darstellerinnen sind aus
Syrien, wollen aber nicht auf ihren Status reduziert werden.
Chris Dercon und die Berliner Volksbühne: Neues Kapitel der Feindschaft
Die Volksbühne wurde von der Polizei geräumt, die Besetzer mussten gehen.
Doch sie werden auch jetzt nicht einfach wieder verschwinden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.