Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ingvartsen an der Berliner Volksbühne: Gallige Süßigkeiten
> Stimulanzen gibt es genug, Schokoloade auch. Die „Red
> Series“-Choreographien von Mette Ingvartsen setzen sich mit
> pornografischer Kunst auseinander.
Bild: Teil der Ingvartsen-Inszenierung: die Orgien-Choreografie „to come (ext…
Wer täglich fünf Tafeln Schokolade isst, kann sich die Folgen in etwa
ausmalen. Wie es sich dagegen mit dem Konsumieren von Bildern verhält, ist
weit weniger bekannt. Was bedeutet zum Beispiel der Fakt, dass
verschiedenen Statistiken der letzten Jahre die Deutschen immer wieder zu
Weltmeistern unter Pornografiekonsumenten erklären? Pornografie entsteht
nicht im Internet, sondern in der Realität. Das Internet ist vielmehr ein
gigantisches Archiv, das die Ausmaße unerfüllter Fantasie einschließlich
sexualisierter Gewalt erahnen lässt. Ein Archiv, das vor Fragen steht, die
selten gestellt werden. Wie reflektiert eine pornografische Gesellschaft
sich selbst?
Das ist die Fragerichtung hinter der jüngsten „Red-Series“-Werktrilogie der
Choreografin Mette Ingvartsen, deren letzter Teil „21 pornographies“ nach
der Uraufführung bei PACT Zollverein in Essen noch bis Samstag in der
Volksbühne Berlin zu sehen ist. Gepaart wird das Stück hier mit der
Orgien-Choreografie „to come (extended)“, einem ästhetizistischen Glanzakt,
der ohne Erweiterung schon 2005 zu sehen war. Ergänzend hat die
Choreografin für jeden der Vorstellungsabende ein Set aus Screenings und
Vorträgen kuratiert, mit denen sie einen Bogen von sexuellen
Gewaltpraktiken zu „widerständigen Potenzialen queer-feministischer
Pornokunst“ spannen will.
Wie bereits bei der Eröffnung der Volksbühne folgt das Publikum dabei einem
Stundenplan von vier Themenblöcken in viereinhalb Stunden. Die damit
einhergehende Verschiebung von künstlerischer Stimulanz- und Sogentfaltung
hin zu einer Atmosphäre von After-Work-Seminaren mit Weißweinpausen schafft
einen Nebenschauplatz: den verbissenen Kampf gegen die Müdigkeit, den ein
nicht unbeträchtlicher Teil des Publikums bereits nach der ersten Runde
verliert.
Zurück zum Hauptschauplatz: Stimulanzen gibt es hier genug. Schokolade
auch. Echt? Schokolade rechts unter dem Sitz? Ja. So hat es die in
schwarzweißer Managerinnen-Garderobe gekleidete Performerin gesagt, so ist
es. Wenn sonst auch beinahe nichts so ist, wie sie es, allein auf der
Bühne, erzählt. Beziehungsweise alles ganz genauso ist: im Film, in der
Literatur, in der Vorstellung. Eine dieser Vorstellungen ist es, Sexsklaven
Exkremente essen zu lassen, andere schauen dabei zu. Aber damit hat die
Schokolade nichts zu tun. Die Szene mit den Exkrementen, die eigentlich
eine Erzählung in der Erzählung ist, ist schon wieder vorbei. Die
Schokolade ist hier der Pfefferminztaler gegen schlechten Atem, das
Publikum darf den Effekt ausprobieren. Ob es dabei ein Bild zurückspult
oder nicht, wird ihm freigestellt. So gallig sind die Süßigkeiten der Mette
Ingvartsen, so fies ihre Ambivalenzen.
Die Performerin und Choreografin ist Meisterin darin, Realität und
Fiktionen ineinander zu verschränken. Ihr Referenzrahmen für „21
pornographies“ ist erneut die Kunstgeschichte. Setting und
Figurenkonstellationen ihrer Erzählungen stammen aus Marquis de Sades „Die
120 Tage von Sodom“. Auf einem Herrensitz mit kafkaesk langen Fluren und
großen Hallen findet statt, was Lust- und Gewaltfantasien so hergeben. Nur
dass sich der Ort des Geschehens mehr und mehr als gigantische
Filmproduktionsfirma herausstellt, die weit mehr im Angebot hat als de
Sade.
## Klang und Bewegung verselbständigen sich
Während die Erzählungen auf der nur durch drei Neonröhrenschwellen
unterteilten Bühne meist rein deskriptiv bleiben, entsteht durch die
Körpersprache von Mette Ingvartsen eine andere Ebene.
Nach anfänglichen, bewusst dürftigen Illustrationen verselbständigen sich
Klang und Bewegung. Nicht nur eine Neonröhre wird anal eingeführt, sondern
damit auch ein anderes Referenzsystem. Das verdeutlicht der zweite Teil des
Abends mit expliziten Filmen, in denen sich die Künstlerinnen Carolee
Schneemann, Valie Export und andere mit pornografischen Bildern beschäftigt
haben.
Deutlich wird damit dennoch nicht – auch nicht nach dem letzten Teil des
Abends, in dem Petra Van Brabandt souverän einen von Körperflüssigkeiten zu
Verflüssigungsprozesse reichenden „wet esthetics“-Begriff erläutert – w…
die Verschränkung der Ästhetiken funktionieren soll.
Ist das De-Sade-Setting das Imperium, das es durch queer-feministische
Empowerment-Praktiken zu erobern gilt? Die sich verselbstständigende
Illustrationsebene der Anfang eines neuen Verflüssigungsprozesses? Oder
wird gerade dieser Versuch von Ingvartsen zynisch belächelt?
Vielleicht will sie genau diese Ambivalenz nicht auflösen. Wenn sie am Ende
in Abu-Ghraib-artiger Maske einen Spiraltanz in virtuosester
Derwischtanz-Technik hinlegt, wird noch einmal alles ineinandergewirbelt.
Dass dabei doch noch ein Sog entsteht, eine Energie, die anstachelt, die
nach Mehr schreit, könnte Teil des Problems sein.
14 Dec 2017
## AUTOREN
Astrid Kaminski
## TAGS
Berliner Volksbühne
Tanz
Pornografie
Porno
Mutterschaft
Berliner Volksbühne
Berliner Ensemble
Berliner Volksbühne
## ARTIKEL ZUM THEMA
Künstler über Sexualität: „Die heutige Kunst ist asexuell“
Marcus Kreiss hält es für seine künstlerische Pflicht, Sex in den
Vordergrund zu stellen und schafft es, damit anzuecken.
Zum Tod von Carolee Schneemann: Extrem einfallsreich, extrem radikal
Die Perfomancekünstlerin Carolee Schneemann schrieb Kunstgeschichte. Sie
fand es richtig, weibliche Lust und Begehren in die Kunstwelt zu bringen.
Inszenierung einer Roman-Adaption: Ihre Liebe, ihre Macht
Allmählich schlüsselt sich ein Mutterleben auf: In Berlin inszeniert Jakob
Fedler „Gertrud“ nach Einar Schleef im Deutschen Theater.
Performance der Volksbühnen-Besetzer: Aktivisten ergreifen Maßnahmen
Die Ex-Volksbühnenbesetzer*innen führen Brechts „Maßnahme“ draußen auf.
„Theater von unten“ als Statement gegen die Gentrifizierung von Kultur.
Volksbühne und Berliner Ensemble: Premieren auf zwei Bühnen
Castorf-Inszenierung „Les Misérables“ hatte am Freitag Premiere. Am Abend
zuvor zeigte die Volksbühne ebenfalls eine Theaterpremiere.
Auftakt der neuen Berliner Volksbühne: Räume jenseits des Sozialen
Mit Monologen von Samuel Beckett und Performances von Tino Sehgal beginnt
die Spielzeit der Volksbühne in Berlin. Zuvor gab es viel Streit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.