# taz.de -- Performance der Volksbühnen-Besetzer: Aktivisten ergreifen Maßnah… | |
> Die Ex-Volksbühnenbesetzer*innen führen Brechts „Maßnahme“ draußen au… | |
> „Theater von unten“ als Statement gegen die Gentrifizierung von Kultur. | |
Bild: Die Maßnahme vor der Volksbühne am Sonntag | |
Bereits am Nachmittag hängen an zwei Laternen vor der Volksbühne auf dem | |
Rosa-Luxemburg-Platz rote Banner mit der Aufschrift „Du kannst, du siehst, | |
du weißt“. Zwischen Polizisten in voller Montur führen die ehemaligen | |
Besetzer*innen des Theaters vor der Volksbühne am Sonntagabend „Die | |
Maßnahme“ auf, ein Lehrstück von Bertolt Brecht. | |
Am 22. September hatte das Kollektiv B6112 die damals leer stehende | |
Volksbühne in Beschlag genommen, um eine „kollektive Intendanz“ aufzubauen. | |
Eine Woche hatte die Besetzung gedauert, einschließlich Verhandlungen mit | |
Politikern und dem neuen Intendanten Dercon. Der belgische Kurator, zuletzt | |
Direktor der Tate Gallery of Modern Art in London, hat in dieser Spielzeit | |
Frank Castorf nach 25 Jahren Intendanz an der Volksbühne abgelöst – eine | |
Personalentscheidung des ehemaligen Kultursenators Tim Renner aus der Zeit | |
der rot-schwarzen Landesregierung, die heftigen Protest ausgelöst hatte und | |
den Grund für die Besetzung lieferte. | |
Nach Einbruch der Dunkelheit und Beseitigung aller Technikprobleme beginnt | |
das Stück. Zunächst formiert sich ein Chor von gut 80 Personen und stimmt | |
das erste Lied der von Hanns Eisler komponierten Musik an. Der Pianist am | |
Keyboard haut Akkorde in die Tasten. Vier junge Menschen treten mit einem | |
Textbuch aus dem Chor heraus nach vorn an die Mikrofone. Das Publikum, | |
ungefähr 300 Personen, gruppiert sich kreisförmig um die improvisierte | |
Bühne. Sie zittern bei Minusgraden und Schneeregen, harren aber aus, | |
während Brecht’sche Parolen durch die Nacht gesungen werden: „Zu | |
zerstampfen die Unterdrücker, zu befreien die Unterdrückten.“ | |
Brecht schrieb „Die Maßnahme“ 1930, die Uraufführung löste heftige | |
Reaktionen aus. Das Stück erzählt von vier Parteifunktionären, die nach | |
China in den Untergrund gehen, um kommunistische Agitation zu betreiben. | |
Die Handlung stellt eine Gerichtssituation dar: Die vier Funktionäre | |
rechtfertigen sich vor den Massen, symbolisiert durch den Chor, für die | |
Tötung eines Genossen. Sie stellen verschiedene Situationen nach und zeigen | |
damit, wie sich der Getötete politisch verhalten hat. Er war impulsiv und | |
wollte aus Mitleid das Elend der Menschen sofort beenden, statt auf die | |
Strategie der Partei und die Entwicklung des Kapitalismus zu vertrauen. | |
Denn nach „den Klassikern“, also vorrangig Marx und Engels, muss die | |
Entwicklung der Produktivkräfte notwendigerweise in eine revolutionäre | |
Situation münden, in der sich das Proletariat gegen die Ausbeutung durch | |
die Bourgeoisie auflehnt. | |
Gut gemeinte „Entwicklungshilfen“ und Almosen, wie sie der junge Genosse | |
fordert, sind demnach nicht der Weg zur Verbesserung der Welt. Letztlich | |
erkennt der Genosse, dass er die Gruppe in ihrem Vorgehen behindert, und | |
willigt in seine Erschießung ein. | |
Die Aktivisten von B6112 treten gegen Gentrifizierung und für Freiräume in | |
der Stadt ein. Die Übernahme der Volksbühne durch Chris Dercon ist für sie | |
solch ein Akt der Gentrifizierung. Seit der Besetzung ist „Die Maßnahme“ | |
das erste Stück, das sie produzieren. Warum ausgerechnet ein Lehrstück von | |
Brecht? | |
„ ‚Die Maßnahme‘ ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem zu | |
erbringenden Einsatz in einer Revolution“, sagt die Aktivistin Hannah R. | |
Das Stück thematisiere das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv. | |
„Bei den Lehrstücken ist das Besondere, dass man sich durch das Spielen mit | |
dem Gespielten identifizieren soll“, ergänzt Johanna, die einen der | |
Funktionäre verkörperte und ihren Nachnamen ebenfalls nicht nennen will. | |
Diese Definition entspricht dem Brecht’schen Lehrstückkonzept: Werktätige | |
lernen auf sinnliche Weise durch Theaterspielen Theorie. Damit soll die | |
Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft nicht nur einer Oberschicht | |
vorbehalten sein, sondern essenzieller Bestandteil der Arbeiterklasse | |
werden. „Theater von unten“ ist auch die Idee der Volksbühnenbewegung | |
Anfang des 20. Jahrhunderts, aus der die Berliner Volksbühne entstand. | |
Chris Dercon habe mit diesem Gedanken nichts mehr zu tun, meinen die | |
Aktivist*innen von B6112. | |
Mit seinem Protest stellt das Kollektiv Fragen nach Stadt- und | |
Kulturpolitik: Wer darf mitbestimmen, wie die Kultur in einer Stadt | |
aussieht? Warum gibt es so wenig Freiräume, in denen sich Bürger*innen | |
selbst kulturell betätigen können? Der „von oben“ installierte Dercon, der | |
weder einen Bezug zur Volksbühne noch zu Ostberlin hat, ist für B6112 ein | |
Symbol verfehlter Stadtpolitik. Auf ihrer Facebookseite zitieren die | |
Aktivist*innen Georg Büchner: „Friede den Hütten …“, Krieg den Paläste… | |
Der Revolutionsjargon sitzt. | |
4 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Daphne Weber | |
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