| # taz.de -- Künstler über Sexualität: „Die heutige Kunst ist asexuell“ | |
| > Marcus Kreiss hält es für seine künstlerische Pflicht, Sex in den | |
| > Vordergrund zu stellen und schafft es, damit anzuecken. | |
| Bild: Marcus Kreiss trägt einen Kunst-Hut eigener Kreation aus Pappe: „Just … | |
| taz: Marcus, wieso hast Du vor 40 Jahren nach dem Abitur Hamburg den Rücken | |
| gekehrt? | |
| Marcus Kreiss: Kunst und Film wollte ich machen, in Paris. Manche Leute | |
| fangen gleich an zu studieren. Aber ich musste erst mal zum Militär. | |
| Bist Du deshalb ins Ausland? | |
| Bestimmt auch. | |
| Warum nicht Zivildienst? | |
| Ich hatte keine Lust mehr auf Deutschland. | |
| Du warst in Hamburg Redakteur der Hertzwelle, der Schulzeitung der | |
| Heinrich-Hertz-Schule. Was genau ist damals eigentlich passiert? | |
| Wir schrieben in der Hertzwelle Nummer 9 über Sex. Das waren unschuldige | |
| Berichte, überwiegend von jungen Frauen. Auf dem Titel waren nackte junge | |
| Männer. Ich stand als Verantwortlicher im Impressum und bekam einen | |
| Verweis. Das heißt: Wenn Sie jetzt noch mal auffallen, fliegen Sie raus. | |
| Das war eine größere Sache. Das muss die Schulkonferenz beschließen. Und | |
| ich weiß noch, wie die linken Lehrer sich von mir distanzierten. | |
| Echt. Wie denn? | |
| Indem sie sich nicht solidarisiert haben. Die sagten: „Du hast ja | |
| Pornografie verbreitet unter den Jüngsten. Der Verweis ist gerecht.“ | |
| War es Pornografie? | |
| Es hieß, rechtlich sei es so. Und die dürfe man nicht an Leute verbreiten, | |
| die unter 18 sind. Das war Blödsinn. Weil die Berichte handelten aus der | |
| Zeit, da waren wir selbst unter 18. Also, man darf es erleben, aber man | |
| darf es nicht beschreiben. Komisch. | |
| Gab es keinen Kompromiss? Die Hefte erst ab Klasse 8 verteilen? | |
| Das haben wir de facto so gemacht. Aber es ging nicht um die jüngeren | |
| Kinder. Es ging um unter 18. Wir hätten das in der Oberstufe verteilen | |
| können. So viele Leute haben das gar nicht gelesen, aber der Direktor | |
| meinte, er müsste mir den Verweis geben. | |
| Hat Dich das vergrault? | |
| Nein. Ich fand es eine gute Erfahrung. Da kam die Presse, es wurden Fotos | |
| gemacht. Wir kamen auf den Titel von Stern und Konkret. Die wollten die | |
| Mädchen mit Busen vorn haben. Das Fernsehen hat auch berichtet. Habe viel | |
| gelernt. Über die Presse, und wie man Sachen verkauft. Machst du keinen | |
| Skandal, redet keiner über dich. Wenn man provoziert, passiert etwas. | |
| Was hast du im Ausland gemacht? | |
| Ich ging nach Wien, habe die Schauspielschule probiert und Kunst studiert. | |
| Dann bin ich nach Paris. Musste aber erst Französisch lernen. Dann bin ich | |
| nach Florenz, bekam dann ein Stipendium für Italienisch. Da hat der Staat | |
| alles bezahlt. Hotel und Pasta. Hab Film in Rom studiert, in Cinecittà. | |
| Warum wurdest du nicht Journalist? | |
| Ich bin auch Journalist. Ich betreibe seit 2006 mit [1][,Souvenirs from | |
| earth'], kurz ,sfe.tv', einen Kabelfensehsender. Der zeigt Kunstfilme, ist | |
| aber auch ,meinungsbildendes Medium' . War lange Zeit auch in halb | |
| Deutschland auf Kabel zu sehen. Am Anfang habe ich alle Filme selber | |
| gemacht, heute nutzen über 3.000 Künstler diese Plattform. | |
| Heute malst du Akte. | |
| Ich musste wieder malen. | |
| Eine der Galerien in Paris erwähnte in Deiner Vita die Hamburger | |
| Schülerbewegung von 1980. | |
| Das war die Ankündigung für eine Diskussion über Sexualität in der Kunst. | |
| Die Galerie zeigte nur die Illustrierten-Cover mit den nackten Mädchen. | |
| Warum nicht Dein Cover der Hertzwelle mit den nackten Jungs? | |
| Da hat keiner mich gefragt. Viel wichtiger sind meine anderen Arbeiten über | |
| Kunst im öffentlichen Raum. Ich will Kunst nicht anders denken als im | |
| sozialen Kontakt. Meine letzte Ausstellung hieß „Sexworks-Coitbar“. Und sie | |
| zeigt Porträts von Sexworkern. | |
| Weiblich oder männlich? | |
| Beides. Es geht mir um ein altes Thema. Die Sex-Industrie gibt es. Aber sie | |
| hat ein großes Problem mit der Zensur. Meine Bilder werden auf Facebook | |
| geblockt, wenn Nippel zu sehen sind. Und diese Sexworker werden gepiesackt, | |
| in Amerika ganz besonders. Vielen Sexworkern haben sie das Konto gesperrt. | |
| Weil sie Sexworker sind? | |
| Ja. Und ich mache echte Porträts für diese Sexworker. Praktisch | |
| Werbeplakate. Der Titel „Sexworks“ ist natürlich wieder voll provokant | |
| gemeint. | |
| Warum ist die Provokation nötig? | |
| Weil die Kunst heute asexuell ist. Bis in die 1950er-Jahre war sie voller | |
| Sex, voller Körper. Männliche wie weibliche. Wenn du in den Louvre gehst, | |
| ist die Körperlichkeit des Menschen allgegenwärtig. In den 60ern ist der | |
| menschliche Körper aus der Kunst verschwunden. Unter anderem wegen den | |
| konzeptuellen und minimalistischen Sachen. Du kannst einen Betonblock | |
| hinstellen, das ist leichter zu verkaufen. Der Kunstmarkt ist eine Welt der | |
| Ausgrenzung geworden. Als ob die Menschen nicht mehr die Triebe hätten wie | |
| vor 100 Jahren. Deswegen habe ich diese Diskussion angezettelt. Und viele | |
| meiner Models sind eben Sexworker. Ich kenne die ganze Szene. | |
| Wie kam das zustande? | |
| Die Erotik-Models zum Aktmalen sind eben auch Sex-Worker. Die erzählen mir | |
| ihr Leben. Ich hatte schon damals an der Kunstschule Nudes gemalt. Aber | |
| dann machte ich jahrelang nur Film. Als ich dann wieder anfing, malte ich | |
| Häusertürme. Einen Akt zu malen ist schwieriger als Architektur. | |
| Häuser bewegen sich nicht. | |
| Ja. Und man kann ungefähr sein. Malst du einen Menschen, musst du viel | |
| genauer hingucken. Und ich besonders, ich male die Menschen ja so groß, wie | |
| sie sind. Ich kann nichts kleiner zeichnen als in der Natur. | |
| Warum nicht? | |
| Weil ich es nicht fühle. Als meine Freundin anfing, am Computer Bilder zu | |
| machen, habe ich gesagt: Lass das, du kriegst einen dicken Arsch. | |
| Das ist ja gemein. | |
| Das habe ich so gemeint. Mein Leben war so. Jeden Morgen saß ich am | |
| Computer, aus 1.000 Gründen, Software, Steuererklärung, Filme schneiden. Da | |
| fing ich wieder das Malen an. Ich wollte diese physische Erfahrung haben. | |
| Am Anfang malte ich große Lastwagen und stellte sie aus, das war so 2013, | |
| 2014. Erst dann kamen die Nackten. | |
| Wo findest du Modells? | |
| Erst war es eine Freundin, und dann kannte die eine Freundin und ich wollte | |
| auch neue haben. Und ganz am Anfang buchte ich auch Models für meine Filme. | |
| Hast du mit denen Sex? | |
| Das kommt vor. Das finde ich toll. Weil es so derartig das ist, was man | |
| heute nicht tut. Ich liebe meine Situation. Ich lebe in Paris in dem alten | |
| Haus und bin Maler. Das ist anachronistisch. Ich male Nudes aus Opposition. | |
| Bestimmte Galerien zeigen das nicht, weil es zu sexy ist, obwohl es gar | |
| nicht porno ist, sondern nur eine Frau, die offensiv sexy ist. Aber da | |
| haben Leute Probleme mit. Deswegen mache ich das. Immer das Gegenteil von | |
| dem, was man erwartet. | |
| Die Bilder zeigen die Frau als Sexobjekt. | |
| Die Frauen sehen sich nicht abgewertet. Die haben viel mehr Kohle als ich | |
| und leben oft in Luxus-Hotels. Sie nutzen, dass sie gut aussehen. Die eine | |
| macht Kunstfilme auf meinem TV-Kanal. Sie verdient aber ihr Geld mit | |
| Erotikfotos. Man muss sich nur hinstellen, aufpassen, dass man sich in Form | |
| hält. Das ist kein schlechter Job. Eine Frau ist feministisch sehr aktiv. | |
| Kommt aus einer Arbeiterfamilie in Nordengland und ist Pornodarstellerin. | |
| Das sind unabhängige Frauen. Die wollen nicht gerettet werden. Eine andere | |
| hat gefilmt, wie sie masturbiert. In Kinoqualität mit Kran gefilmt. Sehr | |
| schön. Um mal dagegen was zu halten, was man uns so alles aufwürgt. | |
| Was denn? | |
| Alles, was schmutzig ist und aneckt, will man nicht haben, weil es nicht | |
| ins internationale Geschäft passt. Alles muss heute sauber sein. Da ist es | |
| unsere künstlerische Pflicht, dirty Sex in den Vordergrund zu stellen. | |
| Wie viele hast du gemalt? | |
| Viele. Habe ich nicht gezählt. Aber ich bin technisch weiter. Ich male mit | |
| schwarzen Wachsstift auf Zeitungspapier. Das muss man aufkleben, sonst | |
| reißt es. Wie ich das klebe, habe ich jetzt gelöst. Ich zeig mal hier ein | |
| Werk. | |
| Die ist ja nicht nackt. | |
| Nö. Die meisten sind gar nicht nackt. Aber es sind Porträts. Ich ehre so | |
| diese Frauen, die schief angeguckt werden. Nenne mir einen wichtigen | |
| Künstler, der diese Frauen nicht gemalt hat. Toulouse Lautrec malte nur | |
| solche Frauen. Seine Huren-Porträts hängen heute in allen Bürgerhaushalten. | |
| Obwohl in Frankreich Prostitution verboten ist. Die Prostituierten gehen | |
| auf die Straße, weil das Gesetz sie in die Illegalität treibt. Ihnen fehlt | |
| der Schutz gegen Aggressionen, denen sie ausgesetzt sind. | |
| Ein Bild zeigt eine Frau auf Stöckelschuhen, die sich bückt. | |
| Das habe ich als Plakat gedruckt. Das heißt „The bright side of | |
| capitalism“. Es kam gut an, besonders bei jungen Frauen. | |
| Aber so kann keiner stehen. | |
| Doch. Ich zeig das Foto. | |
| Ach, vom Foto ist das. | |
| Ja. Ich male meistens vom Foto. Auch wenn ein Bild aussieht, als wäre es | |
| schnell gemacht, brauche ich ein, zwei Tage und zeichne Hunderte von | |
| Versionen. Manchmal male ich auch live. Das ist dann in Nachtclubs im | |
| Sommer. Die meisten gucken dann nur aufs Mädel und nicht auf mich. Aber, | |
| ich kriege dafür Geld. | |
| Malst du nur Frauen? | |
| Ich habe jetzt auch Sex-Akte, wo Männer dabei sind. Meine Models sagen, | |
| mach doch mal Männer. | |
| Viele Akte verstören. | |
| Wenn Kunst niemandem auf den Schlips tritt, braucht man sie gar nicht. | |
| Hast du in Paris Feinde? | |
| Vor einem Jahr gab es auf einer Ausstellung mehrere offiziell | |
| pornografische Bilder mit politischen Parolen. Eine Frau hat vorne, hinten, | |
| überall riesige Schwänze. Drüber stehen Parolen aus der Finanzsprache: | |
| „Increased marketshare, immediate return“. Vergrößerung der Marktchancen, | |
| sofortige Profitentnahme. Da hat das Pornobild einen bestimmten Sinn, | |
| funktioniert wie Werbung. Ich schlage das System mit seinen eigenen | |
| Mitteln. | |
| Das hast du gemalt? | |
| Ja. Aber nicht realistisch gezeichnet. Es ist kein Porno, an dem man sich | |
| hochziehen kann. Aber es ist plakativ. Und dann kamen die Frauen von | |
| Science Po, das ist eine französische Eliteschule. Die wollten mit mir über | |
| meine sexistischen Tendenzen reden. Da sagte ich: Das mache ich extra so. | |
| Die wollten uns ihre Meinung als Meinung der Welt aufdrängen, und wer am | |
| lautesten dagegenhielt, das waren meine Mitarbeiterinnen. | |
| Ehrlich gesagt, verstehe ich die Frauen von Science Po. | |
| Das erwarte ich auch nicht anders. | |
| Die Schülerzeitungen, für die wir früher schrieben, da ging es uns um | |
| Gleichberechtigung. Junge Frauen wollten kein Objekt der Männer sein. | |
| Es geht um Sex in der Gesellschaft. Viele Leute stört Sex. Ich wurde in | |
| Köln in einer Kneipe zensiert, als ich eine Frau zeigte, die auf Highheels | |
| Tennis spielt. Und dann haben Feministinnen den Wirt bearbeitet. Das Plakat | |
| musste weg. Zeige ich einen Mann als Sexobjekt, protestiert keiner. | |
| Frauen sind immer noch in der strukturell unterlegenen Position. Es ist | |
| eine Errungenschaft, das Schamgefühl anderer zu achten. | |
| Aber dafür muss man nicht den Sex aus der Kunst verbannen. Kunst hat heute | |
| das Problem, als sexuell zu existieren, weil viele Kuratoren praktisch | |
| asexuell sind. Sogar ein Bild von Gustav Corbet, das im Musée d`Orsay | |
| hängt, darf nicht auf Facebook gezeigt werden. Und da sieht man eine Frau | |
| mit gespreizten Beinen. Das ist Kunstgeschichte. Das ist vor 150 Jahren | |
| gewesen. Dass das in der Kunst existieren darf, dafür setze ich mich ein. | |
| Deine Familie lebt in Hamburg. Willst du eines Tages zurück? | |
| Es reizt mich schon, ein Kunstprojekt aufzuziehen. So eine Art | |
| Kunstgalerie, die nicht danach aussieht und als Sexshop getarnt ist. | |
| 12 Aug 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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