| # taz.de -- Clemens Meyer über neuen Roman: „Ein Chaos, ein einziger Bruch“ | |
| > Schriftsteller Clemens Meyer spiegelt die Wirtschaftswelt am Beispiel der | |
| > Sexindustrie: ein Gespräch über seinen apokalyptischen Roman „Im Stein“. | |
| Bild: Die Halbwelt lauert in den Sofaritzen: Clemens Meyer scheint Zugang zu ei… | |
| taz: Herr Meyer, sind Sie erleichtert? | |
| Clemens Meyer: Warum? | |
| Weil Sie Ihr bislang umfangreichstes Werk abgeschlossen haben. | |
| Ja, es ging schon an die Substanz. Es ist in der Tat das umfangreichste | |
| Werk, zum einen vom Zeitraum, den es behandelt: 20 Jahre etwa, von der | |
| Wende bis zur heutigen Zeit. Und ich habe auch am längsten daran | |
| geschrieben, seit 2008 saß ich dran. | |
| Ist es stilistisch Ihr radikalstes Buch? | |
| Es ist ein Roman, der permanent von Brüchen lebt. Von dem Vorgänger | |
| "Gewalten" ist es aber stilistisch nicht so weit weg. Aber du musst dich | |
| mit jedem Buch neu erfinden. Man will auch für jedes Buch eine neue | |
| Herausforderung. | |
| Ist es Ihnen wichtig, sich in Inhalt und Stil von vielen Ihrer alten | |
| Kollegen des Leipziger Literaturinstituts abzuheben? | |
| Ich habe deren Werke in den letzten Jahren nicht mehr so verfolgt, das kann | |
| ich nicht beurteilen. Stilistisch ist mir manches in der | |
| Gegenwartsliteratur zu zahm. Bei einem Buch muss ich merken, da ist ein | |
| Ton, da ist ein Sound, der die Zeit trifft. Oft finde ich die Handlungen zu | |
| stringent erzählt. Wo sind die Brüche unserer Welt? Mir fehlt die Idee | |
| einer Avantgarde - und zwar als Leser. Wir leben ja in einer ähnlichen | |
| Situation wie in den 1920er-Jahren, seit die neuen Medien auf uns | |
| einbrechen. Die Welt ist ein einziges Chaos, ein einziger Bruch. Das | |
| Internet hat auf seltsame Art und Weise Macht von uns ergriffen, das Geld | |
| fließt so vor sich hin, darauf versuche ich stilistisch zu reagieren. | |
| Hat sich Ihre Sichtweise auf das Netz denn verändert? | |
| Ja, ein bisschen schon. Es ist wie ein Big Brother, den wir selbst | |
| erschaffen haben. Keiner braucht sich über die NSA aufzuregen. Wir stellen | |
| unsere Daten selbst ins Netz, man öffnet sich der Ausspähungsarbeit. Ist | |
| doch klar, dass Geheimdienste das nutzen. Alle positiven Seiten haben auch | |
| einen negativen Gegenpart. Ich bin aber generell altmodisch. Ich glaube an | |
| die Bibliotheken, ans Papier, an die Bücher. | |
| Ändern sich Schreibweisen durch die Dominanz des Internets? | |
| So etwas wie Bewusstseinsströme gabs schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Ich | |
| glaubs eigentlich nicht. Für mich ist das Netz vor allem Inspiration. Eine | |
| Passage im Roman etwa ist komplett aus dem Internet übernommen, wo Leute in | |
| Foren über den Berliner Abou-Chaker-Clan schreiben. Die lassen sich da aus, | |
| in einem Deutsch, das der Wahnsinn ist. In einem Kapitel erfinde ich einen | |
| Radiosender nur für den Sexmarkt. Dafür bin ich viel in Freier-Foren | |
| herumgesurft, die sich über Sexerlebnisse austauschen: "Wo krieg ichs denn | |
| am billigsten?" Völlig enthemmt. Das war schon interessant. | |
| Damit sind wir beim Thema Ihres Romans. Zu einem großen Teil besteht der | |
| aus Schilderungen von Figuren, die mit der Sexindustrie zu tun haben. | |
| Ich habe jahrelang das Leben von Prostituierten beziehungsweise | |
| Sexarbeiterinnen beobachtet. Aber diese inneren Monologe habe ich mir alle | |
| ausgedacht. Ich habe nie Fragen gestellt. | |
| Sie haben gar keine Interviews geführt? | |
| Nein, ich habe immer darauf gehört, was erzählt wird. Man ist in einem Club | |
| ins Gespräch gekommen. Ich glaub, ich bin ein ganz guter Menschenimitator. | |
| Aber da hab ich ewig dran gearbeitet, diesen Sound zu finden - den Slang, | |
| den die da sprechen. Ich war wie ein Schwamm, der das alles aufsaugt. Und | |
| es gibt auch viele Bücher, die Prostituierte geschrieben haben, dort kriegt | |
| man Details und Informationen. | |
| Das Ansehen von Sexarbeit ist gerade ein großes gesellschaftliches Thema. | |
| Was mich an der Debatte stört, ist, dass alles über einen Kamm geschoren | |
| wird. Jede Prostituierte hat eine eigene Geschichte; es wird ja häufig so | |
| getan, als hätten wir 99 Prozent Zwangsprostituierte hier. Ich glaub nicht, | |
| dass es annähernd 50 Prozent sind, das weiß ich eigentlich auch. Jede | |
| einzelne davon ist zu viel, das ist klar. Aber es gibt zum Beispiel in | |
| Leipzig Leute, die sich bemühen, ein Bordell zu betreiben, in dem man ganz | |
| sauber arbeitet. Wo man nicht will, dass Frauen dort unter Druck arbeiten. | |
| Aber Druck, was ist das? | |
| Erzählen Sies uns. | |
| Ich bin eine Zeit lang in Deutschland viel in solche Etablissements | |
| gegangen, in vielen Städten. Ich bin da hingegangen, hab mein Geld | |
| versoffen, weil mich das interessiert hat. Aber zum Thema Druck: Seit | |
| Ungarn vor ein paar Jahren fast bankrott gegangen wäre, hat die Zahl der | |
| ungarischen Sexarbeiterinnen zugenommen. Das ist doch das Entscheidende: | |
| Die werden nicht hierher geschleust, sondern kommen her, um Geld zu | |
| verdienen. Weil die da bettelarm sind. Das ist auch Druck. | |
| Auch Kinderprostitution kommt in Ihrem Roman vor. | |
| Die Schattenseiten werden nicht verschwiegen. Aber das ist nicht das | |
| Hauptthema. Es gibt im Prinzip kein Hauptthema in dem Buch. | |
| Sie versuchen, die Wirtschaftswelt anhand dieser Branche zu erklären - und | |
| dazu haben Sie auch Klassiker gelesen, wie man aufgrund der Einschübe | |
| vermuten darf. | |
| Sie meinen "Das Kapital"? Ja, das habe ich nicht ganz gelesen, aber da habe | |
| ich mich durchgequält und habe Passagen angestrichen, die sich gut auf den | |
| Sexmarkt beziehen lassen. Es ist Wahnsinn, wie Marx die Wirtschaft seziert | |
| hat - man kann Dinge heute lesen und sieht: Es ist einfach so. | |
| Erklärungsmuster für Aktien, Banken. Die Frage, was Arbeitswerte, was | |
| Gebrauchswerte sind. Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mensch so eine | |
| Leistung vollbringen kann, was der da hinter seinem dichten Bart | |
| ausgebrütet hat. | |
| Sie zeichnen in Ihrem Roman ein apokalyptisches Bild der neoliberalen Ära? | |
| Eigentlich ja, es ist ein Wirtschaftskrieg, der da tobt. Es ist ein | |
| Spiegelbild der Gesellschaft am Beispiel der Sexindustrie. Der Fluss des | |
| Geldes dort. Ich beschreibe ja, wie in den Neunzigern die Ostdeutschen noch | |
| BWL studieren und an ihren Geschäftsideen basteln - New Economy und so -, | |
| bis sie irgendwann in der Wirtschaftskrise landen. | |
| Seither haben sich die Märkte verschoben. | |
| Ja, ich habe das Gefühl, dass wir in einer grenzenlosen Zeit leben. Der | |
| Kalte Krieg hat die Dinge eingegrenzt, im Negativen, aber das war eben so. | |
| Die 90er waren die Umbruchszeit und seit den Nullerjahren leben wir in | |
| einer völlig haltlosen Welt. Das Kapital ist außer Rand und Band geraten - | |
| aber das Buch ist natürlich auch eine bewusst apokalyptisch gezeichnete | |
| Welt. | |
| Sie haben unsere Zeit bereits mit den 1920ern verglichen. Hat unsere Zeit | |
| vom Grundgefühl auch etwas von den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg? | |
| Historisch war es natürlich eine völlig andere Situation, aber es war eine | |
| ähnlich chaotische Konstellation. Aber was sollte jetzt denn kommen? | |
| Derzeit wäre es die Gefahr, dass Terroristen mit nuklearen Sprengköpfen für | |
| eine Katastrophe sorgen. Aber mittlerweile habe ich das Gefühl, auch davon | |
| würde man sich schnell erholen. Katastrophen jedweder Art scheinen schnell | |
| überwunden. Fukushima hat jetzt auch nicht für allzu langes Innehalten | |
| gesorgt. Es kennzeichnet das Heute, dass man alles schnell wieder vergisst. | |
| Politisch kennzeichnet diese Zeit bei uns in Deutschland … | |
| … vollkommene Stagnation. Ich dachte ja immer, ein guter, großer | |
| Sozialdemokrat würde kommen, aber es gibt keinen. | |
| Ich würde gern noch über Ihre Arbeitsweise, über Sie als Figur im | |
| Literaturbetrieb sprechen. | |
| Ich hab doch die letzten Jahre gar nicht stattgefunden. | |
| Zu "Gewalten" aber waren Sie doch noch sehr präsent, und dann haben Sie | |
| Theaterstücke geschrieben. | |
| Ja, die Stücke haben aber keinen interessiert. "Sirk the East" hab ich für | |
| das Centraltheater in Leipzig geschrieben. Das war meine beste Zeit. Eine | |
| Talkreihe haben wir dort auch veranstaltet, da habe ich mit Gästen über | |
| absurde Themen gesprochen. Der Theaterbetrieb ist ganz anders als der | |
| Literaturbetrieb. | |
| Inwiefern? | |
| Für mich fühlt sich das anders an, weil ich im Literaturbetrieb nicht so | |
| gut vernetzt bin; nur, wenn ich ein neues Buch habe, dann wirbel ich da | |
| durch. | |
| Im Literaturbetrieb verteilen Sie immer mal Seitenhiebe in Richtung Daniel | |
| Kehlmann. Ist der Ihr Lieblingsfeind? | |
| Grundsätzlich: Ich habe überhaupt nichts gegen Kehlmann. Es ist nur nicht | |
| meine Art von Literatur. Seine Bücher sind doch auch erfolgreich - soll er | |
| doch machen. Ich hab mal so ne Rede zu Brecht von ihm gehört, die fand ich | |
| daneben: Brecht, der böse Kommunist. Das muss man doch im historischen | |
| Kontext sehen. Oder seine These "Wider das Regietheater", die ist für mich | |
| unverständlich. Kunst muss weh tun. | |
| Sie mögen Regietheater? | |
| Modernes, kontroverses Theater, das Stoffe bricht, ist gut. Wir hatten etwa | |
| "Faust" ohne ein gesprochenes Wort. Nur mit Grunzen und Quieken und so. Ich | |
| war erst skeptisch, aber das war gut. | |
| Sie werden oft als der literarische Outsider mit seinen Tattoos unter dem | |
| Jackett dargestellt. Nervt Sie das? | |
| Da sage ich mir, Augen zu und durch. Ich will meine Bücher beurteilt | |
| wissen. Deshalb freuts mich, wenn Leute mal über Literatur mit mir sprechen | |
| wollen, weil das häufig zu kurz kommt. Und die Klischees nerven mich | |
| trotzdem. | |
| Was lesen Sie gerade? | |
| Büchner, Lenz. Das ist toll. | |
| 7 Oct 2013 | |
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| Jens Uthoff | |
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