# taz.de -- Erinnerungen ans Berliner Nachtleben: Das Feiern auf Papier | |
> Die Zeit scheint gerade gut für Bücher mit Erinnerungen an die | |
> Partykultur. Mit „Nachtleben Berlin“ wird noch einmal opulent nachgelegt. | |
Bild: Auch schon wieder Geschichte: Berlin Summer Rave 2011. | |
Wenn die Eule der Minerva erst in der Dämmerung fliegt, wie Hegel meinte, | |
beginnen die Feiersäue von einst ihre Erinnerungen dann aufzuschreiben, | |
wenn die Party vorbei ist? Das mag man denken, wenn man die vielen neuen | |
Publikationen über die Berliner Party- und Subkultur ansieht, die in den | |
letzten Monaten herausgekommen sind. | |
In etwas mehr als einem Jahr sind erschienen: Wolfgang Müllers | |
enzyklopädische Monographie „West-Berlin 1979–1989“ über die Punk- und | |
New-Wave-Szene dieser Periode und deren Quasi-Fortsetzung „Der Klang der | |
Familie“ von Felix Denk und Sven von Thülen über den frühen Berliner | |
Techno. Ergänzt werden diese Rückblicke durch „Die ersten Tage von Berlin“ | |
von taz-Redakteur Ulrich Gutmair über den „Sound der Wende“. Vor Kurzem gab | |
es im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien die Ausstellung „Wir sind hier nicht | |
zum Spaß!“ zu sehen, die die künstlerisch angehauchte Partykultur der | |
unmittelbaren Nachwendezeit dokumentierte. Und in der kommenden Woche | |
erscheinen nun mit „Nachtleben Berlin“ ein opulenter Foto- und | |
Interviewband zum Partytreiben in dieser Stadt sowie mit „Apple zum | |
Frühstück“ die Erinnerungen der Nachtlebenreporterin Jackie A. Mal ganz zu | |
schweigen von den Memoiren von Rolf Eden und Detlef Uhlmann. Den endlosen | |
Zeitungsartikeln und Blogeinträgen über David Bowies Berliner Periode. Oder | |
den englischsprachigen Segway-Touren zu den Diskotheken, die in „Wir Kinder | |
vom Bahnhof Zoo“ erwähnt werden. | |
Okay, das letzte Beispiel habe ich jetzt erfunden. Aber wenn das so | |
weitergeht, wird sich die Erinnerungsliteratur über lang vergangene Partys | |
bald in die Zeit zurückgearbeitet haben, als in Rixdorf noch Musike war. | |
Mensch, Kinder, das waren noch Zeiten, als man quasi umsonst in feuchten | |
Kellern dröhnende Partys feiern konnte, ohne dass gleich das Ordnungsamt | |
einschritt, das MDMA noch nicht so verschnitten und die Mixe der DJs noch | |
nicht so stumpf waren wie heute. Nicht, dass du etwas davon wüsstest, | |
Hipster-Jungspund, der du heute die Vergnügungstempel der Hauptstadt | |
bevölkerst, scheint da jemand sagen zu wollen. Ihr seid nicht nur „zu jung | |
für Rock ’n’ Roll“, wie es Kraftklub auf ihrer ersten Single konstatiert… | |
Nein, Freunde, ihr seid auch zu jung für Punk, New Wave und Techno. | |
Das Feiern auf Papier wird vor allem von Autoren betrieben, die dem | |
unmittelbaren Partyalter mittlerweile entwachsen sind und sich nun mit dem | |
Pathos der Dabeigewesenen auf die Suche nach der durchgefeierten Zeit | |
machen. Da geht es auch um Deutungshoheit. | |
## Teil der Historisierung | |
Diese Bücher sind Teil einer Historisierung der modernen Tanzmusik, die in | |
Deutschland eigentlich vergleichsweise spät einsetzte. Mit dem heiligen | |
Ernst von Archäologen haben zum Beispiel Bill Brewster und Frank Broughton | |
in dem Klassiker „Last Night a DJ Saved My Life“ schon 1999 den Aufstieg | |
des Diskjockeys vom Plattendreher zum Superstar nacherzählt. Da tropfte der | |
Schweiß von der Decke, genialische DJs kämpften mit ihrer | |
Heroinabhängigkeit und in beseelten Nächten wurde jede neue Platte vom | |
Jubel einer Tanzfläche voller eingeschworener Fanatiker übertönt. | |
In diesem Buch – wie auch in den in rascher Folge erschienenen, immer | |
akademischer werdenden Werken von Alan Jones, Peter Shapiro oder Tim | |
Lawrence – wurde auf der Basis von extensiven Interviews und einem | |
intensiven Quellenstudium die Entwicklung des Dance Floor in New York, | |
Chicago, Ibiza, London und Berlin nachgezeichnet. Da mutet die in | |
Deutschland seit Jürgen Teipels NdW-Dokumentation „Verschwende Deine | |
Jugend“ so beliebte Methode der Oral History, die inzwischen von dem | |
Magazin Electronic Beats bis zu „Nachtleben Berlin“ die | |
Musikgeschichtsschreibung dominiert, doch etwas lazy an. | |
Es ist schön, dass die Clubgeschichte inzwischen so gründlich erforscht | |
ist. Und die neuen Partybücher sind wichtige Beiträge zur einem Aspekt | |
Berliner Stadtgeschichte, der heute das internationale Image der Stadt | |
prägt, zu ihrem Strukturwandel beigetragen hat und – in einer Stadt ohne | |
nennenswerte Industrie – sogar ein Wirtschaftsfaktor geworden ist. | |
Doch sollte man darüber nicht die Warnung aus Simon Reynolds auch noch | |
nicht so altem Buch „Retromania“ vergessen, dass die | |
Vergangenheitsbezogenheit der heutigen Musikszene die Weiterentwicklung von | |
Pop zu ersticken scheint. Westentaschen-Pop-Archivare, die ihre Tage damit | |
verbringen, rare Ron-Hardy-Remixe aus dem Internet herunterzuladen, | |
historische Gigs von Daniele Baldelli bei YouTube nachzuholen oder Bücher | |
wie die erwähnten zu lesen, tanzen nicht. | |
Zu viel Dokumentation schadet der Party. Beim Berghain weiß man schon, | |
warum es dort verboten ist, Fotoapparate mitzubringen. Die Möglichkeit, | |
dass mit dem Smartphone aufgenommene Partybilder im digitalen Mahlstrom der | |
sozialen Medien auftauchen, lädt nicht gerade zum hemmungslosen Feiern ein. | |
Wie der Club das Fotoverbot im Zeitalter des Smartphones durchsetzt – wie | |
der Mangel an Bildern aus dem Inneren des Clubs bei YouTube oder Instagram | |
beweist –, bleibt sein Geheimnis. Und ist vermutlich Ansporn für die | |
kommende Party-Erinnerungsliteratur. Die muss dann für die Nachgeborenen | |
halt doch wieder mit Worten beschreiben, wie es im Berghain in der Panorama | |
Bar anno 2013 um sechs Uhr morgens zugegangen ist. | |
5 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
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