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# taz.de -- Buchmessen-Gastland Brasilien: Ein Zauber, nicht ohne Widerspruch
> Nicht nur schön, sondern auch extrem gewalttätig. Ein Streifzug durch die
> Geschichte, Theorie und Literatur des faszinierenden Landes Brasilien.
Bild: Kälte, Herzlichkeit und Schönheit: Brasiliens Gegensätze sollten nicht…
Brasilien, dieses Land von kontinentalen Ausmaßen, beginnt gerade erst
seinen ungeheuren Reichtum und schier unerschöpfliches Potenzial vor der
Welt auszubreiten, obwohl kluge Leute schon vor Jahrzehnten von alldem
berichtet haben. Zum Beispiel Stefan Zweig. Zu den Wiederentdeckungen auf
dem Büchermarkt gehört sein Bericht "Brasilien. Ein Land der Zukunft", den
man genau lesen sollte. An diesem gut gearbeiteten Buch kann man seine
Freude haben.
Stefan Zweig befand sich, als er es schrieb, auf der Flucht vor den Nazis
und auf der Suche nach einem Exilland. Den Text konnte er noch 1941 bei
Bermann Fischers Stockholmer Exilverlag in Stockholm veröffentlichen; dann
verließ ihn alle Lebenshoffnung und er nahm sich 1942 in der einstigen
Sommerresidenz des Kaisers Pedro, in Petropolis, gemeinsam mit seiner Frau
Stefanie das Leben.
Zweigs verzweifelte Tat entwertet keineswegs seine Prognose. Elegant
geschrieben, materialreich, bleibt es lesenswert. Es ist in schönen,
handlich kleinen Ausgaben bei S. Fischer und im Insel Verlag erschienen.
Der Reisende weiß so etwas besonders zu schätzen.
Oft muss man bei der Lektüre der neuen Brasilienliteratur mit der schwer
erträglichen Besserwisserei Nachgeborener fertig werden. Martin Curi hat
ein informatives Buch über das brasilianische Leben mit dem Fußball
geschrieben, das auch als exzellenter kulinarischer Reiseführer nicht nur
für WM-Touristen mitzunehmen ist.
Störend wirkt nur die selbstzufriedene Herablassung, mit der er sich nicht
nur Stefan Zweig nähert, sondern auch dessen Zeitgenossen Claude
Lévi-Strauss, der den wunderbaren Reisebericht "Traurige Tropen" (1955)
schrieb, und auch einem Klassiker der sozialwissenschaftlichen
Brasilienliteratur: Gilberto Freyres Studie "Herrenhaus und Sklavenhütte"
(1933).
Curi bewertet die gesamte behandelte Literatur der Vergangenheit mit der
vergifteten gedankenlosen Formel "Aus heutiger Sicht". Das ist kein
Argument, sondern nur ein falsches Selbstbewusstsein von Autoren, die nach
Robert Musils messerscharfer Charakteristik auf der Spitze einer
"Zeitsäule" zu stehen glauben und meinen, herabschauen zu dürfen. Die
"heutige Sicht" ist genauso fragwürdig wie die gestrige. Die erwähnten
Autoren Zweig, Lévi-Strauss und Freyre waren aber keineswegs mediokre
Autoren, sondern eher Pioniere, deren Kenntnis unsere "heutige Sicht"
verbessern könnte.
## Vergiftete Formel
Das gilt unbedingt für Sérgio Buarque de Holanda, dessen 1935 verfasstes
Buch "Die Wurzeln Brasiliens" dankenswerterweise zur Frankfurter Buchmesse
2013 wieder aufgelegt worden ist. Selbstverständlich interessierte sich in
Nazideutschland so gut wie niemand für die diversen Wurzeln Brasiliens,
sondern nur für die Auslandsdeutschen im Süden Brasiliens fern der Heimat,
die dann 1941, mit dem Eintritt Brasiliens in den Zweiten Weltkrieg an der
Seite der Alliierten, in Florianopolis etwa, interniert wurden.
Der Initiator der Edition Suhrkamp, Günther Busch, hat die westdeutschen
Leser zu Beginn der Sechzigerjahre mit Sérgio Buarque vertraut gemacht, als
Brasiliens Zukunft durch den Militärputsch 1964 brutal aufgehalten wurde.
Die Welt war gerade tief beeindruckt von dem atemberaubenden Unternehmen,
mit Brasília mitten im Urwald eine neue Hauptstadt zu bauen, die dem Land
ein neues Gesicht geben sollte. Dieses Projekt ist mit dem Namen Oscar
Niemeyer (1907-2012) verknüpft, der an vielen anderen Orten
architektonische Spuren einer noch heute futuristisch anmutenden Moderne
hinterlassen hat.
Futurismus - das Wort steht nicht für eine feuilletonistische Floskel,
sondern für den Januskopf gesellschaftlicher Modernisierung. Als
Avantgardebewegung vor dem Ersten Weltkrieg hat sie in Petersburg 1911 dem
"öffentlichen Geschmack" eine Ohrfeige gegeben und 1917 die
Oktoberrevolution begrüßt. Nach dem ersten Großen Krieg haben sich in
Italien einige ihrer Protagonisten mit dem italienischen Faschismus
identifiziert.
## Futuristische Moderne
Wie will man das diskutieren "aus heutiger Sicht"? Sicher war nur, die
bürgerliche Ordnung der Klassengesellschaft aus dem langen 19. Jahrhundert
schien nicht mehr haltbar. Auf der ganzen Welt war man auf der Suche nach
etwas Neuem.
Im Brasilien des 19. Jahrhunderts hatte es durchaus schon eine
Modernisierung gegeben. Kaiser Pedro II. liebte es (anders als der Deutsche
Kaiser), sich mit europäischen Intellektuellen zu umgeben. Beide Länder,
Brasilien und Deutschland, machten damals eine Modernisierung im
prunkvollen kaiserlichen Gewand durch. Die Begründer der Republik,
Offiziere, die aus dem Bürgertum hervorgegangen waren, schrieben 1889 das
Motto des ersten Soziologen Auguste Comte auf die bis heute gehisste
Nationalfahne: "Ordem e Progresso". Brasilien schwankt bis heute zwischen
Ordnung und Fortschritt hin und her.
Hellmuth Plessners Charakterisierung Deutschlands als einer "zu spät
gekommenen Nation" lässt sich durchaus auch auf Brasilen anwenden. Der
Progress des 19. Jahrhunderts stand in englischer Gestalt als Industrielle
Revolution vor Augen, in französischer Gestalt als mission civilisatrice.
Aber Dialektik des Erfolgs: Brasilien war in der Kolonialperiode als
Produzent von Zucker und zunehmend als Kaffeeexporteur erfolgreich auf dem
Weltmarkt gewesen.
Als letztes Land der Welt hat Brasilien 1888 auf englischen Druck hin die
Sklaverei abgeschafft, nachdem der Amerikanische Bürgerkrieg diese grausame
Institution im Norden des Kontinents beendet hatte. Bis zur
Weltwirtschaftskrise 1929 behinderten mächtige Agrarlobbys aus São Paulo
und Minas Gerais (Café com Leite, Kaffee mit Milch) die Industrialisierung
des Landes.
## Das leuchtende Böse
Gleichzeitig, als sich in den USA Franklin Delano Roosevelt mit dem New
Deal und Hitler in Deutschland mit dem Nationalsozialismus durchsetzte, kam
in Brasilien Getúlio Vargas an die Macht, einer dieser schillernden
Populisten, die die Klaviatur der Macht beherrschen: mal links, mal rechts,
am besten beides gleichzeitig.
Wie kann man so etwas verstehen? Da hilft einem keine "heutige Sicht". Aus
den 30er Jahren stammen die ersten großen Studien über die brasilianische
Gesellschaft, von denen Buarques "Raízes do Brasil" am eindrucksvollsten
die bis heute schwer beantwortbaren Fragen stellt.
Brasilien fasziniert. Nein, das ist kein diskreter Charme - es ist ein
Zauber, dem sich die Brasilianer selbst kaum entziehen können. "Cidade
maravilhosa" (wunderbare Stadt) nennen sie selbst Rio, auch wenn sie nicht
Carioca sind, sondern die Stadt mit touristischen Augen ansehen wie der
Europäer oder der Nordamerikaner, die sich von Land und Leuten angezogen
fühlen.
Diesem Charme ist auch Stefan Zweig erlegen und man spürt diese
Verliebtheit auf jeder Seite seines Textes. Wer in Brasilien ankommt, wie
er auf der rastlosen Flucht vor den Nazis, der spürt die "Kälte des
bürgerlichen Subjekts" (Adorno) nur noch in seinem eigenen Herzen, das er
aus Europa beschädigt mitgebracht hat, und er empfindet Brasilien als das
Land der Herzlichkeit.
## Traurige Tropen?
"Cordialidade" - diesen Begriff hat kein Tourist geprägt, sondern er steht
im Zentrum von Buarques Essay aus dem Jahre 1936. "Herzlichkeit" sollte
nicht als selbstverliebte Schmusekategorie eines brasilianischen Soziologen
verstanden werden. Buarque bringt mit "cordialidade" das spezifische
soziale Handeln moderner Brasilianer auf den Begriff.
Noch sind die Spuren unmittelbarer Herr-und-Knecht-Verhältnisse im
Verhalten der unterschiedlichen Klassen lesbar; denn Brasilien ist nicht
nur schön, sondern auch extrem gewalttätig. Die "Kälte des bürgerlichen
Subjekts" jedoch beherrscht nicht alle menschlichen Beziehungen - und wird
es hoffentlich auch in Zukunft nicht tun. Der Suhrkamp Verlag hat gut daran
getan, der Neuherausgabe 2013 ein informatives Nachwort des in Berlin
lehrenden Sérgio Costa hinzuzufügen.
Breite und Modernität der soziologischen Diskussion Brasiliens in den 30er
und 40er Jahren wird einem unaufdringlich vor Augen geführt. Man wundert
sich gar nicht, dass brasilianische Soziologen in den 60er Jahren mit der
Dependenztheorie weltweit zum veränderten Verständnis der Beziehungen von
Erster und Dritter Welt beigetragen haben.
Einer der klügsten von ihnen, Fernando Henrique Cardoso (FHC), schaffte es
1993, zu Beginn der neuen Ära, die nicht nur die Soziologen, sondern auch
die aktiven Politiker vor neue Aufgaben stellte, als reformorientierter
Präsident gewählt und 1997 wiedergewählt zu werden. Seine
bildungsfreundliche Politik bereitete das reformorientierte Klima, das
Präsident Lula an die Macht brachte, der die Ex-Guerillera Dilma Rousseff
zu seiner Nachfolgerin bestimmte. Und es ist ihnen gelungen, den elitären
Bildungssektor zu öffnen und einer großen Bevölkerungsschicht, die bisher
an der Armutsgrenze - das hieß in Brasilien auch Hungergrenze - vegetierte,
einen Zugang zu hygienischeren Lebensbedingungen und Lebensmitteln zu
ermöglichen.
## Aufflammende Gegenwart
Die weltweit Aufsehen erregenden Protestbewegungen dieses Sommers sind von
ebenden Zügen der Ambivalenz gezeichnet, die auf allen Stufen der
Modernisierung Brasiliens zu beobachten ist. Legitimer demokratischer
Protest wird begleitet von populistischen Versuchungen.
Wer Brasilien erlebt, dessen Mund und Herz fließen über. Mit Stefan Rinkes
und Frederik Schulzes "Kleiner Geschichte Brasiliens" ist man nicht
schlecht bedient, wenn man sich einen kurzen Überblick über die komplexe
Geschichte dieses Landes verschaffen will. Allerdings darf man sich nicht
stören an einem kulturwissenschaftlichen Jargon. Da werden Identitäten
konstruiert, Nationen und Rassen werden zu Konzepten ohne Inhalte, als ob
die Gesellschaft nach sozialwissenschaftlichen Moden sich entwickeln würde.
Ein Highlight der diesjährigen Brasilienliteratur ist Danilo Bartelts
Copacabana-Buch. Sein Kernstück ist eine Analyse der architektonischen
Entwicklung der Zona Sul von Rio, mit treffenden Illustrationen, jeder
Menge Anekdoten, aber enormer Informiertheit über das Detail. Die Garota de
Ipanema läuft durch diesen Text: Aber auch der Hausmeister, der porteiro,
Bartelts unsichtbarer Held der Apartmentzone, wird sichtbar gemacht, ohne
den dieser Zauber gar nicht möglich wäre; denn hinter all dieser visuellen
und geschmacklichen Opulenz stecken die Ambitionen hart arbeitender
Menschen, die eine Krone der antiken Philosophie als Lebensmaxime
praktizieren: Carpe diem! Dem kann man sein Herz einfach nicht
verschließen.
7 Oct 2013
## AUTOREN
Detlev Claussen
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