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# taz.de -- Literatur und Architektur Brasiliens: Ein Chalet an der Copacabana
> Zwei Bücher, die die Brasilianische Geschichte des 20. Jahrhunderts vor
> Augen führen. Literarisch und architekturhistorisch ein Gewinn.
Bild: Oscar Niemeyers Contemporary Art Museum (MAC) in Brasilien, dem „reiche…
Mit einem Oberschenkelhalsbruch liegt Eulálio Assumpção, der Nachfahre
brasilianischer Großgrundbesitzer, auf dem Gang eines überbelegten
ärmlichen Hospitals irgendwo in Rio de Janeiro. In dieser Situation, vom
Morphin benommen, beginnt der Hundertjährige Pläne für die Zukunft zu
schmieden, um gleichzeitig auf sein trotz Privilegien verspieltes Leben
zurückzuschauen. Hinter diesen persönlichen, sprunghaft erzählten
Erinnerungen zieht wie im Zeitraffer die Geschichte Brasiliens vorüber.
Anhand der Erzählung seines Protagonisten – eines Sohnes der alten Republik
und des oligarchisch geprägten „Coronelismus“ – gelingt es Chico Buarque…
seinem Roman „Vergossene Milch“ auf beeindruckende Weise, die Komplexität
eines ganzen Jahrhunderts mit seinen Brüchen und Kontinuitäten
durchscheinen zu lassen.
Chico Buarque, 1944 geboren, wuchs in Rio de Janeiro in einem
intellektuellen, kulturinteressierten Elternhaus auf. In den sechziger
Jahren wurde er als Musiker international berühmt. In Brasilien gilt er
aber nicht nur als wichtiger Vertreter der Música Popular Brasileira,
sondern ist ebenfalls als Autor zahlreicher Theaterstücke, Drehbücher und
Romane bekannt. Sein 1970 veröffentlichtes Lied „A pesar de Você“ (dt.:
Trotz Ihnen) wurde eine Protesthymne gegen die brasilianische
Militärdiktatur (1964–1985).
In „Vergossene Milch“, seinem zweiten in deutscher Übersetzung vorliegenden
Roman, beginnt der Abstieg seines Erzählers Eulálio mit dem frühen Tod des
Vaters, eines weltgewandten, notorischen Schürzenjägers. Er wird von einem
gehörnten Ehemann oder möglicherweise politischen Gegner niedergeschossen.
## Die falsche Frau für die Oligarchie
Auch seine gesellschaftlich nicht opportune Verbindung mit Matilde, der
dunkelhäutigen Tochter eines Parlamentariers, verhindert Eulálios Teilhabe
am bis in die 1930 Jahre gepflegten Patronage-System der brasilianischen
Oligarchie. (Seine eigene Mutter vermutet bei der Schwiegertochter aufgrund
ihrer Hautfarbe einen starken Körpergeruch.)
Ohne den Machtinstinkt seiner Vorfahren führt Eulálio die Waffengeschäfte
mit dem französischen Geschäftspartner des Vaters halbherzig fort. Doch die
Weltwirtschaftskrise vernichtet große Teile des in Europa angelegten
Familienvermögens. Bezeichnend ist, das Eulálio selten gut informiert ist
oder sein möchte – nicht über politische Ereignisse, aber genauso wenig
über die Beweggründe seiner geliebten Frau Matilde, ihn und die gemeinsame
Tochter María Eulalía plötzlich zu verlassen.
Rio de Janeiro verändert sich rasant, und die neoklassizistische Villa der
Familie in Botafago wird für einen Spottpreis an die dänische Botschaft
verscherbelt. Nach Botschaftsumzug in die 1960 gegründete Hauptstadt
Brasília wird aus dem Park der Villa ein Parkplatz.
Genauso wird das einst vom Großvater im Schweizer Stil errichtete Chalet im
ehemaligen Fischerort Copacabana versetzt und macht einem mehrstöckigen
Apartmenthaus Platz. Schon längst führt durch die einstige Fazenda der
Familie „draußen am Berge“ eine Umgehungsstraße.
Durchgelegen auf seiner Krankenhausliege, erinnert sich Eulálio Assumpção
mit gleicher Intensität und übergangslos an Balbino, den Sohn des
ehemaligen Sklaven und Pferdeknechts auf der Fazenda, an Matilde und ihr
damaliges Chalet in Copacabana oder den Anblick der Leiche seines in
Drogengeschäfte verwickelten Urenkels Eulahino in einem billigen
Stundenhotel. In Eulálios Erinnerung wird die Zeit außer Kraft gesetzt und
die Gegenwart mit der Vergangenheit eng verwoben. Das scheint eine
angemessene Vorstellung von Geschichte – gerade in einem Land, wo die
Transformation von der einstigen Kaffeerepublik zum heutigen „Tigerstaat“
rasant vollzogen wurde.
## Künstler und Intellektuelle im neuen Brasilien
„Wir hatten zu Hause ein Klavier, und Vinícius de Moraes, Antônio Carlos
Jobim, Ary Barroso und der fantastische Chico Buarque gingen bei uns ein
und aus. Als ich Chico zum ersten Mal begegnete, war er noch ein Kind, denn
ich war mit seinem Vater befreundet, dem großen Historiker Sergio Buarque
de Holanda. Ich entwarf ein Haus für die Familie, das aber leider nicht
gebaut wurde.“ In dem soeben erschienenen Büchlein „Wir müssen die Welt
verändern“ erinnert sich Oscar Niemeyer – der inzwischen verstorbene
weltberühmte brasilianische Architekt – an seine Freunde und Wegbegleiter.
So gehörten Oscar Niemeyer und Chicos Vater, Sergio Buarque de Holanda,
Autor des Standardwerkes „Die Wurzeln Brasiliens“ (1936), Ende der
dreißiger Jahre zu dem Kreis von Künstlern und Intellektuellen, die durch
den liberalen, reformorientierten Bildungs- und Gesundheitsminister Gustavo
Capanema in das Projekt des „Neuen Brasiliens“ der populistischen Regierung
Vargas eingebunden wurden.
In der schmalen, mit Abbildungen und Skizzen seiner realisierten Bauwerke
ansprechend gestalteten Ausgabe gibt der hundertvierjährige Niemeyer kurz
vor seinem Tod noch einmal Auskunft über sein Leben – seine kommunistische
Überzeugung, die Architektur als einen politischen Beitrag zu sehen, und
über die Menschen, die ihn auf seinem Weg begleitet und beeinflusst haben.
Niemeyer, 1907 geboren, wuchs in einem traditionellen Viertel Rio de
Janeiros auf. Seine Familie lebte in einem großen, im Kolonialstil erbauten
Haus in der „Orangenstraße“, umgeben von Palmen, Mango- und
Jackfruchtbäumen. „Als Kind ging ich bis Ipanema, um die Fischer zu
beobachten, die mit vollen Netzen zurückkehrten, die Frauen, die
frühmorgens kamen, um frischen Fisch zu kaufen, der in den Netzen
zappelte.“
## Das Exil für Niemeyer und Buarque
Im Laufe seines langen Lebens sah Niemeyer zahlreiche Regierungen,
politische Allianzen und Regime kommen und gehen. Mit Fidel Castro verband
ihn eine lebenslange Freundschaft. Präsident Juscelino Kubitschek
beauftragte Oscar Niemeyer mit dem ehrgeizigen Projekt, eine neue
Hauptstadt zu planen.
Brasília wird 1960 eingeweiht. Doch wenige Jahre später, nach dem
Militärputsch, verlässt Oscar Niemeyer Brasilien. So wie auch Chico
Buarque, der 1968 nach Italien geht.
„Alle meine Freunde mussten als politische Oppositionelle ins Exil gehen.
Brizola [Anm.: brasilianischer Politiker] blieb wie ich lange in Paris. Ich
wohnte in einem Apartment in Saint-Germain. Frankreich empfing mich mit
offenen Armen, und ich verkehrte mit Jean-Paul Sartre, den ich immer
bewundert und gelesen habe. Sein Denken hat mich stark beeinflusst, vor
allem sein pessimistischer Blick auf den Schmerz und das Leid. Aber ich
hielt es nicht aus, lange in der Fremde zu leben, weit weg vom Meer, von
der Copacabana, denn ich kann nur am Meer leben.“
Der Historiker Sergio Buarque de Holanda hatte Brasilien einst als ein
„reiches armes Land“ beschrieben. Der äußerst gelungene Roman seines Sohn…
„Vergossene Milch“ und die programmatische Schrift seines Freundes Oscar
Niemeyer „Wir müssen die Welt verändern“ geben beide auf unterschiedliche
Weise einen deutlichen Eindruck von den Umwälzungen der letzten hundert
Jahre, aber auch von den widersprüchlichen Kräften, die in Brasilien bis
heute wirken.
8 Oct 2013
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
## TAGS
Oscar Niemeyer
Brasilien
Rio de Janeiro
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Brasilien
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Copacabana
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