# taz.de -- Brasilianischer Popstar Gilberto Gil: "Lateinamerika ist das Versuc… | |
> Ein Interview mit dem brasilianischen Popstar Gilberto Gil über die | |
> Relevanz von Breitband-Internetanschlüssen, Afrika und seine Amtszeit als | |
> Kulturminister. | |
Bild: Komponierte als Kulturminister: Gilberto Gil. | |
taz: Im April 2008 sind Sie nach gut fünf Jahren als Kulturminister | |
Brasiliens zurückgetreten. Was hat sich dadurch für Sie verändert? | |
Gilberto Gil: Ich kann mich wieder voll und ganz der Musik widmen. In den | |
letzten beiden Jahren meiner Amtszeit hatte ich bereits einige Lieder | |
komponiert, daraus ist schließlich das Album "Banda Larga Cordel" | |
entstanden. Ich habe jetzt sogar Zeit für weitere Projekte, eines mit | |
meinem Sohn Bem, zu dem jetzt noch Jacques Morelenbaum dazugekommen ist. | |
Was bedeutet "Banda Larga Cordel"? | |
Banda Larga, also Breitband, ist ja die Möglichkeit, Inhalte auszutauschen | |
- je breiter, desto höher die Nutzung und der Austausch von Dateien, desto | |
mehr Quantität und Qualität im Cyberverkehr. In diesem Sinne ist es ein | |
politisches Manifest. Nicht nur Brasilien, die ganze Welt muss | |
Breitband-Internetzugang erhalten. Cordel-Heftchenliteratur wiederum ist | |
eine wichtige Gattung der Volksliteratur mittelalterlichen Ursprungs, die | |
in Nordostbrasilien populär ist. Sie ermöglicht die Verbreitung von | |
Gedanken, von volkstümlicher kultureller Reflexion und war bei vielen | |
Liedern sehr präsent, die auf der Basis dieses Herumdichtens entstanden | |
sind, das von der Cordel-Literatur kommt. | |
"Não Tenho Medo da Morte" (Ich habe keine Angst vor dem Tod) heißt ein | |
Lied. Denken Sie oft an den Tod? | |
Fast ständig. | |
Warum? | |
Der Tod rahmt das Leben ein, er ist am menschlichen Horizont. Das kommt, | |
wenn man sich ernsthaft mit Fragen der Endlichkeit auseinandersetzt. Da wir | |
alle dazu bestimmt sind, uns der Endlichkeit zu stellen, müssen wir die | |
endliche Zeit, die uns gegeben ist, unendlich leben. | |
In Ihrem Song "O Oco do Mundo" (Das Ende der Welt) erscheint eine | |
ungewöhnlich pessimistische Weltsicht. | |
Das gilt nur, wenn das Leben von der tiefen Spiritualität getrennt ist, vom | |
Sinn des Erhabenen, der die Anwesenheit des Menschen auf der Welt prägen | |
sollte. Wenn das Leben reiner Materialismus wird, Ehrgeiz, Macht, wenn der | |
Mensch die klare Vision des Spirituellen verliert, dann fällt er in ein | |
schwarzes Loch. | |
In "La Renaissance Africaine" heißt es, Afrika sei "der Schlüssel zur | |
echten Konstruktion der zivilisierten Welt". Wie ist das gemeint? | |
Das hängt mit der Haltung der Kolonisatoren zusammen, die Afrika | |
unterworfen und seine Reichtümer geraubt haben. Es ist der Kontinent, der | |
die Techniken der Viehzucht, der Metallverarbeitung, des Fischfangs, des | |
Hausbaus noch vor Europa und Asien entwickelt hatte. Afrika ist jedoch | |
nicht wirklich als Wiege der Menschheit anerkannt. Doch das ändert sich, | |
auch wegen der schwarzen Diaspora in Brasilien, in den USA, der Karibik und | |
Europa. 1977 war ich zum ersten Mal in Afrika als Gast beim Festival der | |
Schwarzen Künste in Lagos. Ich habe dieses Festival der Négritude intensiv | |
erlebt, auch wegen der intensiven Debatten über Musik, Kultur und Religion. | |
Dort habe ich auch Fela Kuti und Stevie Wonder kennengelernt. | |
Zu Beginn Ihrer Karriere war Rock n Roll ein wichtiger Einfluss, wie ihr | |
Song "Chuck Berry Fields Forever" andeutet. | |
Rock n Roll brachte neue Haltungen, mehr Freiheit, Lust auf Veränderung. | |
Die Afroamerikaner haben den Übergang vom Blues über den R&B zum Rock n | |
Roll bereitet, man denke nur an Muddy Waters oder eben Chuck Berry. Später | |
haben das weiße Bands wie die Rolling Stones weitergeführt. Heute haben wir | |
eine sehr starke Rockszene in Brasilien, mit Verästelungen zum Pop, zur | |
Samba, zu den ursprünglichen brasilianischen Musikformen. | |
Ihr Song "Domingo No Parque" ist ein Meilenstein der brasilianischen | |
Popgeschichte. Er ist 1967 entstanden, als sie sich den Tropicalisten | |
angeschlossen hatten. Worum ging es im "Tropicalismo"? | |
Wir wollten das, was aufsässige Jugendliche in den USA und Europa mit ihrer | |
Rebellion verändert hatten, auch für Brasilien nutzen, ob im Pop oder auf | |
dem Gebiet des Films. Mit Tropicalismo haben wir den alten Kulturkanon | |
dekonstruiert. Wir hatten die globale Dimension der brasilianischen Kultur | |
schon damals verstanden. | |
Das Militärregime reagierte hart. | |
Dafür sind Diktaturen auch da, sie sind die reaktionäre Dimension des | |
menschlichen Handelns. | |
Als sie nach einigen Monaten aus der Haft entlassen wurden, haben Sie | |
"Aquele Abraço" geschrieben … | |
Da war ich schon halb in London im Exil. Es war ein Abschiedsgruß, eine | |
Geste der Dankbarkeit an das Volk, die brasilianische Seele, ein Gruß an | |
Rio de Janeiro, die Trommel des brasilianischen Orchesters. | |
Und dann kehrten Sie 1974 zurück, mitten in die bleiernen Jahre der | |
Diktatur, und schrieben "Cálice". | |
"Cálice" habe ich mit Chico Buarque geschrieben, es wurde von der Zensur | |
verboten. Aber meine Rückkehr wird am besten durch einen anderen Song | |
charakterisiert: Die Wahrnehmung des Wandels, das war "No Woman, No Cry". | |
Das war der Beginn einer Öffnung für Demokratie. | |
Ab 2000 haben Sie sich der Musik des Nordostens zugewandt - warum? | |
Dort sind ja meine Ursprünge. Ich bin im Landesinnern von Bahia | |
aufgewachsen, im Sertão. Es ist ein karges Land mit einer reichen | |
Musikkultur, die mich geprägt hat. Regionale Künstler wie Luiz Gonzaga oder | |
Jackson do Pandeiro sind singende Gitarristen. Ihr Spiel erinnert an die | |
steppenartige Landschaft der Caatinga. Über den Soundtrack zu dem Film "Eu, | |
Tu, Eles" habe ich wieder an meine eigene Geschichte angeknüpft. Ich habe | |
auch ein Album mit Songs aus dem Repertoire von Luiz Gonzaga aufgenommen, | |
bin durch den Nordosten getourt. Das ist und bleibt mein großer | |
Bezugspunkt. | |
Was ist besonders an der Musik aus Bahia? | |
Der Baião-Rhythmus, die arabischen Elemente der Rhythmik. Das Akkordeon ist | |
sehr wichtig, weil es die nordöstliche Musik mit der ganzen europäischen | |
Bauernmusik aus Italien, Frankreich und Deutschland verbindet. Deswegen war | |
auch das Akkordeon das erste Instrument, das ich gelernt habe. | |
Bereits 1967 haben Sie mit "Soy Loco Por Tí, América" eine Hymne auf | |
Lateinamerika komponiert. Wie beurteilen Sie die politischen Veränderungen | |
der letzten Jahre? | |
Sie sind bedeutsam, vor allem nach der Überwindung der totalitären Regime, | |
die auch durch die US-Interessen der Mitte des 20. Jahrhundert geschmiedet | |
wurden. Heute engagieren sich die USA mehr mit einer Vision der | |
Zusammenarbeit, des Teilens. Inzwischen regieren sozialdemokratische bis | |
halb sozialistische Regierungen in Lateinamerika. Brasilien spielt eine | |
immer wichtigere Führungsrolle, und der ganze Kontinent bewegt sich in | |
Richtung eines nachhaltigen Fortschritts. | |
Oft sprechen Sie von einem zivilisatorischen Modell, das in Brasilien, in | |
Lateinamerika entstehen könnte … | |
In Ländern wie Kolumbien, Peru oder Brasilien gibt es ein großes | |
Völkergemisch. Die lokalen Indianer, die Afrikaner, die Europäer, die | |
Asiaten, alle kommen beim Aufbau Amerikas zusammen. Hier entsteht eine | |
Weltneuheit, Lateinamerika ist dafür das Versuchslabor par excellence. | |
Was haben Sie in Ihrer über fünfjährigen Amtszeit auf den Weg gebracht? | |
Wir haben eine neue Erzählung entwickelt über die breiten Beziehungen | |
zwischen Kultur, Wirtschaft und Entwicklung, der Produktion, von der Kultur | |
als Element zur Stärkung des Volkes. Die Verbindungen zwischen der Kultur | |
und diversen Sektoren der Gesellschaft sind stärker geworden … | |
… was heftigen Widerstand der Eliten ausgelöst hat. Wie wichtig sind | |
Autorenrechte für Sie? Sie sind ja der prominenteste brasilianische | |
Vertreter von Creative Commons. | |
Technologien, mit denen man Dinge neu kombinieren kann, pulverisieren die | |
Autorschaft. Deshalb muss das Verhältnis zwischen der Sicht des Autors und | |
der kulturellen Produktion neu geregelt werden. Dabei geht es voran, in | |
Brasilien und auf der ganzen Welt. | |
Können Sie sich eine Rückkehr in die Politik vorstellen? | |
Nein, daran denke ich derzeit nicht. | |
20 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
## TAGS | |
Brasilien | |
Oscar Niemeyer | |
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