# taz.de -- Wiederentdeckung von Walter Smetak: Seltsames mit magischen Kräften | |
> Die neu aufgelegten Alben des brasilianisch-schweizerischen Komponisten | |
> Walter Smetak offenbaren einen singulären Klangkosmos. | |
Bild: Naturphilosoph, Komponist, Erfinder: Walter Smetak Ende der 1970er in Sal… | |
Vier Männer bevölkern in leicht verdrehten Posen das schwarzweiße | |
Querformat. Das längliche Objekt, das sie in Bisshöhe halten, reicht links | |
über den Bildrand hinaus. Ein Endlosbaguette auf einer angeheiterten | |
Campusparty? Nein, es ist eine Riesenflöte und der verschwitzte | |
Krankenkassenbrillenträger mit der Rock-’n’-Roll-Frisur, rechts im Bild, | |
hat sie erbaut und mit seinen Studierenden immer wieder ausprobiert. | |
Es ist [1][Walter Smetak], ein schweizerisch-brasilianischer Komponist, | |
Bratschist und Esoteriker, der mehrere Hundert Instrumente erfunden und | |
zusammengebastelt hat: Von Varianten europäischer Streichinstrumente, über | |
bizarre Plastikschlauch-Free-Jazz-Spaßmaschinen bis zu anthropomorphen, | |
schneemannähnlichen Skulpturen mit Augen aus Kalebassen, die man als Gott, | |
Klangquelle oder Mahnmal hat benutzen können. | |
Dank des DAAD waren einige von ihnen 2017 mal in Berlin zu sehen. Ein | |
erstes Mal war Smetak 1982 in der Stadt, kurz vor seinem Tod. Danach hat | |
sein Schüler Tuzé do Abreu immer mal wieder bei Berliner Festivals Leute in | |
Smetaks Musik eingeführt. Aber solcher Einführungen bedarf es auch, denn an | |
dem Werk dieses Mannes ist nichts naheliegend und nichts erklärt sich von | |
selbst. | |
## In der diasporischen Weltzentrale | |
Smetak, 1913 in Zürich geboren, 1937 nach Brasilien emigriert, kommt von | |
der europäischen Klassik mit Neigungen zu neuer Musik. Als junger Mann | |
schlägt er sich zunächst in allen möglichen Musikkulturen zwischen Kasino, | |
Konzertsaal und Caféhaus in den südlichen Metropolen Brasiliens durch. In | |
den 1950ern beginnt der kulturelle Boom von Salvador da Bahia. | |
[2][Intellektuelle aus aller Welt] und allen Disziplinen ziehen in die | |
Stadt, die als diasporische Zentrale afrikanischer Kultur in Brasilien | |
gilt, als das „schwarze Rom“. | |
Der Romancier Jorge Amado, der argentinische Zeichner und Journalist | |
Carybé, die italienische Architektin Lina Bo Bardi bilden eine Vorhut, der | |
in den 1960ern viele weitere Künstler:Innen und Autor:Innen folgen | |
werden. Ihre aus tiefer Faszination und exotistischer Verniedlichung | |
zugleich getragene Aufwertung der Stadt und ihres Hinterlandes wird | |
gleichzeitig zu einer Bedingung für die [3][Entstehung des Tropicalismo]. | |
Der ehrgeizige Politiker Edgard Santos, unter Getúlio Vargas 1954 kurz | |
Erziehungsminister, baut in Salvador eine Uni auf, die als erste Brasiliens | |
darstellende Künste und Musik auf dem Programm hat. Modernisten aus aller | |
Welt treffen dort auf Studierende wie Caetano Veloso, Tom Zé und | |
[4][Gilberto Gil]. Geleitet wird das Musikdepartment von Hans-Joachim | |
Koellreutter, einem in Brasilien enorm wichtigen Musikpolitiker, deutschen | |
Emigranten, Zwölftonkomponisten und Klavierlehrer von Tom Jobim, der wie | |
seine Kolleg:Innen in Salvador glaubte, dass sich aus dem | |
Aufeinandertreffen von Dodekaphonie und afrodiasporischer Musik etwas | |
machen lasse. 1957 holte er Smetak nach Bahia. | |
## Theosophie, Hinduismus, Candomblé | |
Der war mittlerweile nicht nur ein eigensinniger, produktiver Komponist und | |
Autor geworden, sondern auch Anhänger und Praktiker der Eubiose, einer | |
spezifisch brasilianischen Kreuzung aus Theosophie mit brasilianisiertem | |
Hinduismus und Praktiken aus dem Umfeld des Candomblé. Ihn beeindruckten | |
afrikanische Kunst und Instrumente, die es überall in Bahia gab, im | |
alltäglichen Gebrauch und diversen Sammlungen, auch eine von [5][Lina Bo | |
Bardi] zusammengestellte. Smetak begann seine eigenen Instrumente zu | |
entwickeln. | |
Es ist ja ein klassischer eurozentrischer Fehler der Ethnologie, das | |
Konzept „Musikinstrument“ unumwunden auf Klangobjekte zu übertragen, die | |
auch noch andere Funktionen hatten und haben. Smetak machte das Gegenteil: | |
Aus Objekten, die noch reichlich Elemente europäischer Instrumente, vor | |
allem Streich- und Zupfinstrumente hatten, wurden langsam diesen immer | |
unähnlichere Gesellen. Zugleich sammelte sich ein Kreis junger Leute um den | |
Schweizer Charismatiker: Nicht nur die erwähnten Stars des Tropicalismo, | |
sondern auch Komponisten wie Marco Antônio Guimarães, der den | |
Instrumentenbau im Sinne Smetaks mit seinem Ensemble Uakti weiterführen | |
sollte. | |
Die Smetak-Leute improvisierten viel, aber nicht nur. Alle musikalischen | |
Parameter waren offen, standen zur Diskussion – aber der Meister hatte | |
schon sehr entschiedene Ansichten. Seine Schüler:Innen ergingen sich oft | |
in einer sehr zarten, vorsichtigen Behandlung der selbstgebauten wie der | |
konventionellen Instrumente. | |
## Wilde Sessions, fromme Kadenzen | |
Manchmal klangen die Sessions auch wild, dann wieder mündeten die | |
perkussiven Exzesse in mystisch auftretende Drones; Mikrotonalität war ein | |
Faktor, dann gab es aber auch fast traditionell anmutende, in die Länge | |
gezogene fromme Kadenzen. Die Liebe zu natürlichen Materialien, lokalen | |
Holz- und Bearbeitungstraditionen begegnete dem Instrumentenumgang eines | |
klassisch europäischen Geigers und Bratschisten. Hatten sie sich in den | |
Umgangston, die Ideen zu Tonalität und die neuen Instrumente eingearbeitet, | |
durften aber auch die Studierenden das Zusammenspiel dominieren. Es waren | |
Ereignisse lebendiger Musik, keine Recording Sessions. | |
Dass es solche dann doch mal geben sollte, hat schließlich Caetano Veloso | |
dem Meister nahebringen können – und er hat dann auch das 1974 auf Philips | |
veröffentlichte Album „Smetak“ finanziert und produziert. Rogerio Duarte, | |
Bassist, Designtheoretiker und Lieblingsgrafiker des [6][Tropicalismo] hat | |
kongenial das Cover als grafische Notation des Namens Smetak gestaltet. Das | |
einzige andere Album, „Interregno“, hat dann der Staat Bahia 1980 | |
produziert, diesmal ist eine regelrechte Band, das Conjunto de Microtons, | |
ausgewiesen. | |
Eine kurze köstliche Kostprobe enthält auch die zweite Folge der für alle | |
Interessent:Innen eines tropischen Musikmodernismus ohnehin sehr | |
empfehlenswerten Compilation-Serie „Compositores da Bahia“. Das ist dann | |
aber auch schon das ganze öffentlich verfügbare Werk – Manuskripte, | |
Partituren, aber auch theoretische Abhandlungen, Theaterstücke, Skulpturen | |
liegen jede Menge in Archiven und bei der Familie, doch trotz der Aktivität | |
von Musikfestivals, Goethe-Instituten, dem Ensemble Modern und dem DAAD | |
geraten sie nicht an die Öffentlichkeit. | |
## Instrumente als Skulpturen | |
Kulturpolitik und -förderung liegt in Brasilien nicht erst seit Bolsonaro | |
ziemlich darnieder. Immerhin scheint die gut informierte und von Smetaks | |
rühriger Familie unterstütze Ausstellung mit den Instrumentenskulpturen in | |
Salvador wieder geöffnet zu sein (im Museum Solar Ferrão, wo man auch die | |
von Lina Bo Bardi gesammelte Arte Popular findet). | |
Für die existierenden Original-Tonträger mit Smetaks Musik bezahlt man | |
zwischen 100 und 500 Euro je nach Zustand. Daher ist es eine gute | |
Nachricht, dass beide Alben nun in einer den heutigen Standards | |
entsprechenden Vinyl-Luxusausgabe neu herausgebracht werden. Und wahrlich, | |
Leute, es ist die seltsamste Musik des Planeten! Gar nicht so sehr, weil | |
ihre Zutaten (selbst gebaute Instrumente, die einen Bezug zwischen | |
rituell-magischen und musikalisch-mathematischen Handeln auslösen sollen, | |
Musiker:Innen aus Jazz, Pop und Neue Musik, die sich den Regeln eines | |
inspirierten Sonderlings fügen) so ungewöhnlich sind, sondern die Haltung, | |
die attitude. | |
Was haben wir nicht im Leben an Grenzen niederreißenden Sonoklasmen, | |
befreiten Soundkommunen und Experimentalexzessen zu Ohren bekommen! Doch | |
waren dies immer Ereignisse der Entschlossenheit, der Euphorie, des Willens | |
zur Macht. | |
Bei den überzarten Zupf- und Streichereignissen auf „Smetak“ müsste man | |
dagegen fast die aktuelle Trendvokabel „Achtsamkeit“ (mit spitzen Fingern) | |
auspacken: Hier bekommen die Klänge süße safe spaces gebaut, dürfen dabei | |
aber zum Glück auch sehr herbe ihre Beziehung zu gar nicht so süßen, | |
magischen Kräften entfalten. | |
Man hat durchweg bei beiden Alben das Gefühl, dass es weder Postmoderne | |
noch die zahlreichen Bemühungen um die Synthetisierung musikalischer | |
Sprachen je gegeben hat. Hier wird der musikgrammatische Exodus aus der | |
Transparenz geprobt. Man hat beim Hören von Smetak zunächst den | |
begeisternden Eindruck, dass hier eine Musik die Möglichkeit einer | |
Verselbstständigung ausprobiert, die anders als alle anderen sich | |
entziehenden und selbst verrätselnden Lebens- und Gesamtkunstwerke nicht | |
das (europäisch, bürgerliche) Individuum zum Maßstab hat, sondern eine | |
idiosynkratische Kollektivität – die manchmal auftritt als wäre sie Natur. | |
Doch auch dieser Eindruck wird noch mal überlagert: Es gibt eine Instanz, | |
die hier etwas vorgibt, das weder Befehle, Anweisungen noch eine Partitur | |
sind. Nicht aus musikalischer Vitalität heraus wie in Jazz-Kollektiven, | |
sondern aus einer Zurückgezogenheit heraus, scheinen die Hinweise zu | |
kommen. Gesten ohne Expression. | |
1 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Diedrich Diederichsen | |
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