# taz.de -- Die brasilianische Tropicálismo-Bewegung: Jazz, Bossa Nova, Psyche… | |
> Vor 50 Jahren begann in Brasilien die künstlerische Bewegung Tropicália. | |
> Jetzt erscheint ein Album von damals wieder, ein neues wird | |
> veröffentlicht. | |
Bild: Erfahren und trotzdem experimentierfreudig: Elza Soares | |
Es ist ein rätselhaftes Album, schon sein Titel klingt äußerst mysteriös: | |
„Obnoxious“, englisch für anstößig, unliebsam. Ist das eine Anspielung a… | |
die Zeitumstände, auf den Alltag unter dem seinerzeit zunehmend repressiven | |
Regime der brasilianischen Militärs? José Mauros Album wurde erstmals 1970 | |
veröffentlicht – doch schon kurz darauf verschwand es wieder in der | |
Versenkung genau wie sein Künstler: der Sänger, Gitarrist und Komponist | |
José Mauro. Ein Gerücht besagt, er sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben | |
gekommen, ein anderes, dass er von den Militärs entführt worden sei – und | |
nie wieder auftauchte. | |
Das britische Label Far Out Recordings hat „Obnoxious“ dankenswerterweise | |
nun ausgegraben und erneut herausgebracht – als erstes Album einer Reihe | |
von Wiederveröffentlichungen des Quartin-Katalogs. Auf dieser von Roberto | |
Quartin gestarteten Plattenfirma veröffentlichten Anfang der 1970er Jahre | |
einige vielversprechende rebellische junge brasilianische Musiker ihre | |
Debüts; trotz aller politischen Widrigkeiten zogen sie es vor, in Brasilien | |
zu bleiben. | |
Die Musik auf „Obnoxious“ kann man durchaus eklektizistisch nennen – dama… | |
wie heute ist sie fern des Massengeschmacks. Überwiegend dunkle, mit | |
orchestralen Pomp begleitete Songs sind da zu hören, die in ihrer | |
Melancholie eine eigentümliche Schönheit ausstrahlen. Manchmal dissonant | |
und immer dramatisch. Musik, die übrigens kaum etwas mit unseren | |
Vorstellungen von Samba oder Bossa Nova zu tun hat, weil sie stilistisch | |
freier wirkt. Noch Jahrzehnte später klingt diese Musik, als stamme sie aus | |
einer anderen Welt. Inzwischen gibt es Hinweise, dass José Mauro | |
tatsächlich noch unter uns weilt, er soll in einer Favela am Rande Rio de | |
Janeiros leben. | |
Laut Ana Maria Bahiana, die die Songs von „Obnoxious“ gemeinsam mit José | |
Mauro komponiert hat, schufen die Künstler des Quartin-Labels ihre „eigene | |
musikalische Welt“. Doch diese war zweifellos geprägt vom libertären | |
Tropicália, jener kulturell-politischen Bewegung also, die die | |
brasilianische Kunst und Musik seit 1967 erobert hat – genau vor 50 Jahren. | |
## Populärkultur fusioniert mit Avantgarde | |
Tropicália fusionierte die Populärkultur des Landes mit der Avantgarde, die | |
traditionelle brasilianische Kultur mit zeitgenössischen Einflüssen aus dem | |
Ausland. Auf einmal strotzte brasilianische Popmusik nur so vor verzerrten | |
E-Gitarren und allegorischen Texten, die klar als Kritik an den politischen | |
Verhältnissen zu lesen sind. Wichtig war den Tropicalistas, auch eine | |
Verbindung zu dem bis dahin weitgehend verleugneten afrobrasilianischen und | |
indigenen Erbe herzustellen. | |
Nirgendwo ist das so deutlich zu hören wie auf Pedro Santos’ legendärem | |
„Krishnanda“-Album von 1968. Der begnadete Perkussionist Santos, der auch | |
Instrumente wie die elektrische Bambusflöte Tamba erfand und das | |
Capoeira-Instrument Berimbau zur Mundflöte weiterentwickelte („berimboca“), | |
legte mit „Krishnanda“ eines der vielschichtigsten Alben jener Jahre vor: | |
Afrobrasilianische Rhythmen treffen auf Rock-Instrumentierung und | |
orientalische Melodien. Von Streichern getragene Instrumentals mischt er | |
mit dem Gesang schreiender Vögel, Gebrüll von Raubtieren und dem Tosen | |
eines tropischen Sturms. Ein bizarrer, esoterischer Mix, der von der | |
Experimentierfreudigkeit der Tropicália-Ära zeugt. | |
„Krishnanda“ ist nur eines von mehreren Wiederveröffentlichungen aus der | |
Tropicália-Ära, die das britische Label Mr Bongo in den letzten Monaten | |
veröffentlicht hat. Ein weiteres heißt „Arthur Verocai“, genau wie der Na… | |
des Musikers aus Rio de Janeiro. Die Original-LP aus dem Jahre 1972 ist bei | |
Sammlern begehrt und war zuvor erst ab rund 1.900 Euro zu haben. | |
Der Autodidakt Verocai, der das Album selber arrangierte und produzierte, | |
verschmolz auf seinem gerade 29-minütigen Werk, begleitet von keinem | |
Geringeren als Pedro Santos an den Percussions und getragen von seiner | |
Stimme, diverse musikalische Strömungen – Jazz, Bossa Nova und | |
Psychedelic-Rock. Damit markierte er den Übergang von Tropicália zum | |
Fusion-Sound, wie er in den Siebzigern en Vogue war. Dem britischen Label | |
Mr Bongo sei gedankt, dass es das oft gesampelte Album neu gemastered und | |
veröffentlicht hat. | |
## Mal süßlich, mal schweißtreibend | |
Das gilt umso mehr für „Mudei de Idéia“ (1971) von Antonio Carlos und | |
Jocafi. Während die bisher genannten Alben sich mit ihren epischen | |
Klangwelten zum konzentrierten Hören vom Sofa aus eignen, gemahnt die Musik | |
des Duos direkt an die Tanzbeine. Vom psychedelisch-groovigen „Se Quiser | |
Valer über das superfunkige „Kabaluerê“ bis zum lieblichen „Hipnose“ … | |
Track, der einen so verführt, wie es der Name verspricht. Und zwischendurch | |
drängen immer wieder die betörenden Backgroundsängerinnen ins Ohr. „Mudei | |
de Idéia“ ist ein Album, wie man sich Tropicália vorstellt – mal süßlic… | |
mal schweißtreibend, die „Brasilidade“ mit dem angloamerikanischen Pop | |
vereinend. | |
Als das Album 1971 aufgelegt wurde, neigte sich die Tropicália-Ära dem Ende | |
zu. Mit Gilberto Gil und Caetano Veloso waren die zwei bekanntesten | |
Tropicalista-Künstler bereits 1969 von den Militärs dazu genötigt worden, | |
ins Exil zu gehen. Doch das Jahrfünft zwischen 1967 und 1972 hat lange | |
nachgewirkt und viele Künstler in Brasilien beeinflusst – bis heute. Die | |
vor allem in São Paulo aufblühende hybride afrobrasilianische Musik steht | |
genauso in Nachfolge des Tropicália wie der „Samba suja“ – der „drecki… | |
Samba. | |
Es ist kein Zufall, dass sich die Samba-Ikone Elza Soares für ihr aktuelles | |
Album mit Protagonisten dieser Szene zusammengetan hat – darunter Romulo | |
Fróes und Kiko Dinucci von Passo Torto, die Bläser der Bra-Afrobeat-Band | |
Bixiga 70, der Produzent und Schlagzeuger Guilherme Kastrup und die | |
Punk-Sambistas von Metá Metá aus Sao Paulo. Herausgekommen ist mit „The | |
Woman at the End of the World“ das vielleicht beste brasilianische Album | |
des Vorjahrs. | |
## Aus Crack-rauchender Transsexuellen wird Heroine | |
Die mindestens 79-jährige Sängerin hat in ihrem Leben viele Höhen und | |
Tiefen durchgemacht und nun ein Alterswerk vorgelegt, auf dem sie neue Wege | |
geht: Sie öffnet sich in ihren Songs aktuellen und experimentellen Jazz- | |
und Rock-Entwürfen, singt dazu, schnurrt, schreit und krächzt. Das Album | |
ist opulent arrangiert, unterlegt mit Streichern und Bläsern, Noise und | |
Electronica. Gleich der Einstiegssong „Coração do Mar“ ist ein Statement: | |
Die Spoken-Word-Vertonung eines Gedichts des Dichters Oswald de Andrade aus | |
den 1920er Jahren, die melancholische Meditation über Verlust und | |
Sklaverei. „Anthropophagie“, den kulturellen Kannibalismus, den Andrade als | |
ästhetische Praxis propagierte, hatten in den Sechzigern auch die | |
Tropicalistas begeistert aufgegriffen. | |
Vom Modernisten Andrade nimmt uns Soares mit, um auf ihr eigenes Leben | |
zurückzublicken („Comigo“), bei aller Freude am Vögeln („Pra Fuder“) … | |
prügelnden Mann eins auszuwischen („Maria da Vila Matilde“), aber auch um | |
über Brasilien und seine Widersprüche nachzudenken. In „Benedita“ macht | |
Soares, die aus bitterarmen Verhältnissen stammt, selbst aus einer | |
Crack-rauchenden Transsexuellen eine Heroine. | |
Nach den schweren politischen Niederlagen der brasilianischen Linken im | |
Vorjahr, die mit dem parlamentarischen Putsch durch den korrupten Michel | |
Temer ihren Anfang nahmen und im sozial desaströsen Einfrieren der | |
Staatsausgaben für die kommenden 20 Jahre gipfelten, gibt Elza Soares’ | |
kämpferische Haltung Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und ihre | |
Kooperation mit einigen der interessantesten Musiker Brasiliens zeigt, dass | |
die junge brasilianische Musikszene lebt. Viva a Tropicália, Fora Temer! | |
28 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Ole Schulz | |
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