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# taz.de -- Landschaftssound aus Mexiko: Der Klang der Stille
> In Mexiko gibt es einen Ort, an dem die Zeit keine Spuren hinterlassen
> hat. Mit dem indigenen Volk der Rarámuri lebt dort der Pianist Romayne
> Wheeler.
Bild: Romayne spielt für die Kinder des Ortes
Retosachi taz | Zwischen dem Pfeifen des Windes und dem Meckern der Ziegen,
zwischen dem Murmeln des Wassers und dem Gesang der Vögel klingt die
Stille. Stille. So mächtig, dass einem die Ohren pfeifen. Hier gibt es
keine Straßen, kein Hupen, keine Telefone. Nur Berge, die sich winden und
wenden und die Schluchten der Sierra Madre formen.
Einer hat versucht, die Stille festzuhalten. Hat sie in Noten destilliert
und variiert. Romayne Wheeler ist 75 Jahre alt und Pianist. Wanderer und
Weltenbummler. Einer, der die größten Städte gesehen, die höchsten Berge
bestiegen und die verborgensten Melodien gehört hat. Geboren in
Kalifornien, zog er mit seinen Eltern über den Kontinent und studierte
später Musik in Österreich. Angekommen ist er erst in den Bergen der
Sierra Madre Oriental im Nordosten Mexikos.
Ein schmaler Steinweg führt zum Haus von Romayne Wheeler. Im Wohnzimmer
geben riesige Glasfronten den Blick auf den Munerachi Canyon frei. Fast
fühlt es sich so an, als schwebe das Haus über den Bergen. Das alles sieht
und fühlt Romayne Wheeler, wenn er an seinem Flügel sitzt und seine Finger
flink über die Tasten fliegen. Ab und zu kritzelt er neue Noten mit
Bleistift aufs Papier. „Musik ist, was nach den Worten kommt, das, was uns
alle verbindet und unserem Leben Sinn gibt“, sagt Wheeler.
## Inoffizieller Bürgermeister
Zusammen mit zwölf Familien wohnt Romayne Wheeler in dem Dorf Retosachi. In
den vergangenen 35 Jahren hat er sich vom Fremden zu einer Art
inoffiziellem Bürgermeister gemausert und treibt im Dorf den Fortschritt
voran. Romayne Wheeler ist ein groß gewachsener Mann mit sonnengebräuntem
Gesicht und weißen Haaren. Ganz anders als die Rarámuri mit ihren drahtigen
Körpern und dem pechschwarzen Haar.
Seit Jahrhunderten lebt das indigene Volk in den Bergen der Sierra Madre.
Ursprünglich siedelten sie sich in und um Chihuahua an. Doch als
spanische Eroberer im 16. Jahrhundert dort Silberminen entdeckten und die
Rarámuri zur Arbeit zwangen, zogen die sich immer weiter in die Schluchten
des Canyons zurück.
Es war Anfang der 80er Jahre, als Romayne Wheeler zum ersten Mal nach
Retosachi kam. „Als Musikologe, um die Musik der Rarámuri für die
Musikhochschule in Wien aufzuschreiben, weil es damals sehr wenig
indianisches Originalmaterial gab“, erzählt er in österreichischem
Singsang. „Ich dachte, das wird nur eine vorübergehende Sache, aber ich
habe mich diesen Menschen sofort innerlich verbunden gefühlt.“
Es habe ihn fasziniert, zu sehen, wie unabhängig die Rarámuri von den
Dingen leben, wie stark die Gemeinschaft ist, in der man alles teilt und
niemals Danke sagt, weil es selbstverständlich ist. Romayne Wheeler
beschloss zu bleiben. Er baute ein Haus und brachte seinen Flügel in einer
einwöchigen, logistischen Mammutaktion nach Retosachi. Und er begann, die
Landschaft mit Noten zu beschreiben.
## Kein Telefon, kein Fernseher
Seitdem durchbrechen seine Klaviermelodien die Stille bis auf die andere
Seite des Canyons. Es gibt kein Telefon, keinen Fernseher, und die nächste
Stadt ist einen Tagesmarsch entfernt. Dieser Abgeschiedenheit verdanken die
Rarámuri vermutlich ihren Namen: „Rarámuri“ bedeutet „die Leichtfüßig…
und mit ihrer Leichtfüßigkeit haben sie es als herausragende
Ausdauerläufer zu internationaler Bekanntheit gebracht. Vor Kurzem erst
flog der Rarámuri Arnulfo Quimares mit einer Zeit von 3 Stunden und 38
Minuten über die Ziellinie des Boston Marathon – in seinen Sandalen aus
Gummireifen, wie sie alle Rarámuri tragen. Und wie allen Rarámuri war ihm
sein Leben in den Bergen Training genug.
Es ist sieben Uhr morgens, und die Sonne schiebt sich träge über die
zackige Bergkrone. Aus dem Schornstein über Romayne Wheelers Küche steigt
Rauch, von drinnen dröhnt Gelächter heraus. Seine Nachbarn sitzen um den
Holztisch und schaufeln Bohnen auf ihre Tortillas. Immer wieder wechseln
sie zwischen Spanisch und Rarámuri während sie die jüngsten Ereignisse
diskutieren: Bürgerversammlung, Elternsprechtag und noch immer kein neuer
Arzt, seit die Krankenschwester in Schwangerschaftsurlaub gegangen ist.
Romayne steht am Herd, brät Schinken.
Kaum ein Fremder verirrt sich je nach Retosachi. Fast zehn Autostunden ist
der nächste Flughafen entfernt. Und die Fahrt ist gefährlich – die
Drogenkartelle nutzen die Abgeschiedenheit der Berge für ihre Zwecke. Für
die Rarámuri bedeutet die Abgeschiedenheit vor allem auch Vergessenheit.
## Die Abgehängten
„Die Unterstützung der Regierung reicht meist nur bis zum Ende der
Asphaltstraße“, sagt Wheeler, während er Teller spült. Unterernährung,
Hungersnöte und eine hohe Kindersterblichkeit sind nur einige der
Probleme, mit denen die Rarámuri kämpfen. Wheeler wollte selbst etwas tun
und gründete schließlich die Stiftung „Der Pianist der Sierra Rarámuri“.
Seitdem spielt er weltweit Benefizkonzerte, deren voller Erlös an die
Stiftung geht. Mit dem Geld haben Wheeler und die Rarámuri eine
Notfallklinik, eine Grundschule und ein Internat in Retosachi gebaut.
Mittagspause. Wie Äffchen kraxeln die Schuljungen die Bäume hinauf. Romayne
Wheeler steht neben Luisi Gutiérrez, dem Grundschullehrer von Retosachi.
„Mit unsere Stipendien unterstützen wir die Kinder, damit ihre Zukunft vom
Ziegenhirten bis zum Kinderarzt keine Grenzen kennt“, sagt Wheeler.
Einer der Stipendiaten ist Romayno Gutiérrez, Wheelers Patenkind. Mit sechs
Jahren lief er jede Woche zwölf Stunden bis ins Internat und sah seine
Familie nur am Wochenende. Dann verbrachte er unzählige Stunden am Flügel
seines Paten. Heute lebt er mit seiner Frau in Chihuahua und studiert Musik
an der örtlichen Universität. Romayno sei der weltweit erste indigene
Pianist, erzählt Romayne Wheeler stolz. Seit einigen Jahren begleitet
Romayno seinen Paten sogar auf Konzertreisen durch die Welt. Dann spielen
sie vierhändig Melodien von Flug des Kolibris, vom Nieselregen und dem
Sonnenaufgang in einer Schlucht vor unserer Zeit.
9 Apr 2017
## AUTOREN
Lisa Hagen
## TAGS
Reiseland Mexiko
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Stille
Klavier
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Brasilien
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