# taz.de -- Latino-Punk von Los Crudos: Gegen die Grenze in den Köpfen | |
> Los Crudos ist die bekannteste Band der Latino-Punkszene in den USA. In | |
> ihren Neunzig-Sekunden-Songs brüllt sie gegen Rassismus, Gewalt und Armut | |
> an. | |
Bild: Los Crudos live in Tijuana, Mexiko | |
Seit 40 Jahren existiert Punk in den USA. Das ist bekannt, nur wenige | |
wissen aber, dass von Anfang an Latinos bei dieser Subkultur mitwirkten. | |
Die bekannteste Band der Latino-Punkszene in den USA sind Los Crudos. Eine | |
Band, die mit Anderthalb-Minuten-Songs gegen Rassismus, Gewalt und | |
Ungerechtigkeit anbrüllte. Und deren Texte so zeitlos sind, dass es sie | |
inzwischen wieder gibt. Im Oktober 2016 feierten Los Crudos ihr 25-jähriges | |
Bandjubiläum. | |
Die US-Punkszene war geprägt von vielen weißen Musikern. Von Anfang an | |
waren aber auch Schwarze und Hispanics beteiligt. In Los Angeles, wo die | |
größte mexikanische Bevölkerung außerhalb Mexikos lebt, entstand ab 1976 | |
eine lateinamerikanisch beeinflusste Punk-Subkultur im marginalisierten | |
Ostteil der Stadt, mit Bands wie The Stains, Alice and the Bags, die | |
Frauenband The Brat, the Zeroes sowie Los Illegals, deren Sänger den Club | |
Vex gründete. Die meisten dieser Gruppen sahen sich zwar nicht als | |
Latino-Punkbands, aber sie hatten ihre eigene Geschichte von Ausschluss, | |
Unterdrückung und Rassismus zu erzählen. Doch es sollte noch bis Anfang der | |
1990er Jahre dauern, bis sich eine eigene Szene entwickelte, die sich | |
Latino-Punk nannte. Federführend waren Los Crudos aus Chicago. | |
„Ich war seit Anfang der 80er Teil der Punkszene in Chicago. Dort gab es | |
viele Bands, aber keine kam aus unserem Viertel“, erzählt Martín | |
Sorrondeguy, Sänger von Los Crudos nach einem Konzert im Hamburger | |
Hafenklang, in einem Mix aus Spanisch und Englisch. Sorrondeguy stammt aus | |
Uruguay, seine Eltern flüchteten mit ihm 1968 vor der Militärdiktatur in | |
die USA. 1985 begann Sorrondeguy, sich für Punk zu interessieren, zwei | |
Jahre später organisierte er das erste Punkkonzert überhaupt in seinem | |
Stadtteil, dem Chicagoer Immigrantenviertel Pilsen. | |
Viele Latinos stehen unter einem großen Anpassungsdruck. Sie fanden im Punk | |
ein Ventil, ihre eigene Identität zu finden. Sorrondeguy lernte | |
lateinamerikanische Punkbands kennen, die gegen die oft diktatorischen | |
Verhältnisse in ihren Ländern Front machten, wie Los Violadores | |
(Argentinien), Inocentes (Brasilien) oder Massacre 68 (Mexiko). Auch die | |
Songs alter lateinamerikanischer Protestsänger haben Sorrondeguy | |
beeinflusst. 1991 verbrachte er ein halbes Jahr in Uruguay und setzte sich | |
mit der Diktatur und der Rolle der USA auseinander. Und er merkte: Ihm | |
fehlte etwas. | |
## Die erste Punkband mit spanischen Texten | |
„In der Szene in Chicago hat kaum jemand interessiert, was wir als | |
Immigranten erleben, was mit unseren Familien und in unseren | |
Herkunftsländern passiert. Also haben wir halt selber Songs komponiert.“ | |
Die 1991 gegründeten Los Crudos (etwa: Die Angepissten) waren die erste | |
US-Punkband, deren Texte ausschließlich auf Spanisch gesungen sind. Kurze | |
Hardcore-Attacken, kaum ein Song dauert länger als zwei Minuten, mit | |
wütendem Gesang, übersteuerten Gitarren, sich überschlagenden Drums; dazu | |
provokante Texte gegen Rassismus, Armut, die Gewalt unter Jugendlichen, | |
Gentrifizierung und die Diskriminierung von Immigranten: „Wir sind | |
gekommen, um ein besseres Leben zu suchen, um dem Leid und dem Schmerz zu | |
entkommen. Aber wir haben das vorgefunden, von dem wir glaubten, es | |
zurückgelassen zu haben. Wir sind nicht gekommen, um Probleme zu machen. | |
Aber wir lassen uns auch nicht wie eine Krankheit behandeln“, heißt es in | |
„Illegal y que“ (Illegal, na und), was zum Leitspruch von Los Crudos wurde. | |
„Die weißen Jungs und Mädchen haben große Augen gemacht“, erinnert sich | |
Sorrondeguy. „Wir haben auf Spanisch geschrien und die Songs auf Englisch | |
erklärt. US-Punks waren zunächst überfordert. Sie fragten: ‚Warum singt ihr | |
auf Spanisch?‘ “ Zuvor hatte kaum jemand über Erfahrungen von Immigranten | |
gesungen, schon gar nicht auf Spanisch. „Die Latino-Punk-Community in | |
Chicago bestand aus Martín und ein paar Leutchens, die zu unseren Konzerten | |
kamen“, ergänzt Bassist José Casas. „Eine Szene hat sich erst entwickelt, | |
als wir angefangen haben zu spielen.“ Und die Punx merkten: Diese Band | |
singt nicht über Klischees, und sie ist integer. | |
## Überall Außenseiter | |
Schnell wurden Los Crudos bekannt. Innerhalb von zwei Jahren folgten | |
mehrere US-Touren, 1994 spielten sie zum ersten Mal in Mexiko, dann in | |
Südamerika und Japan, 1996 tourten sie drei Monate lang durch Europa. | |
Ereignisse wie der Aufstand der Zapatisten oder gegen Immigranten | |
gerichtete Gesetzentwürfe wurden in ihren Texten reflektiert, genauso wie | |
Alltagsrassismus, Ausgrenzung und Beschimpfungen. Selbst innerhalb der | |
Punkszene waren sie Außenseiter – aber nun begannen die Latino-Punks, sich | |
als eigene Szene zu betrachten. Überall entstanden neue Bands wie | |
Huasipungo (New York), Arma Contra Arma (Chicago) oder Kontraattaque (Los | |
Angeles); sie sangen auf Spanisch über ihre eigenen Erfahrungen von Armut | |
und Ausgrenzung und konnten sich so auf Augenhöhe an die Latino-Community | |
wenden. | |
Wie Punkbands vor ihnen machten Los Crudos alles nach dem DIY-Prinzip, sie | |
selbst nennen das „Crudos-Style“. Touren organisieren sie selbst, T-Shirts | |
drucken sie auch und veröffentlichen Platten auf dem eigenen Label. Los | |
Crudos beteiligten sich an politischen Aktionen und versuchten, aus der | |
Musikkultur eine Widerstandskultur zu machen. „Ich entstamme der | |
mexikanischen Community in Chicago, deshalb bin ich auch solidarisch mit | |
anderen Marginalisierten“, beschreibt es José Casas. Sie schmiedeten | |
Allianzen auch außerhalb der Punkszene, zu politischen Aktivisten und | |
Künstlern. | |
Zu ihrem Verständnis von Punk gehört, sich infrage zu stellen, sagt | |
Sorrondeguy: „Bei unserem letzten Album ‚Canciones Para Liberar Nuestras | |
Fronteras‘ dachten die Leute an Grenzen zwischen Ländern. Aber wir fassen | |
das breiter: Die Grenze ist im Kopf! Und meine Idee war, auch diese Grenze | |
zu überschreiten, um die Leute zu provozieren. Wenn du wirklich Punk bist, | |
musst du dich selbst herausfordern. 95 Prozent der Leute wollen von Punk | |
unterhalten werden – aber wir machen die Dinge im Crudos-Style, damit sie | |
wissen, dass es um mehr geht als nur um Musik.“ Beigetragen dazu hat auch | |
das Coming-out des Sängers 1995. „Als ich mich geoutet habe, gab es Leute, | |
die gesagt haben: ‚Eigentlich fand ich Los Crudos gut.‘ Meine Antwort: | |
‚Wenn dich das stört, hast du uns nicht verstanden.‘ “ | |
## Danach kam Queercore | |
Ende der Neunziger wurde die Latino-Punkszene zu einem Faktor, aber für Los | |
Crudos, die diese Entwicklung ausgelöst hatten, war 1998 Schluss. Eher | |
sporadisch folgten einzelne Benefizkonzerte. Sorrondeguy gründete die Band | |
Limp Wrist und wurde Teil des Queercore. Er drehte einen | |
Punk-Dokumentarfilm und gab einen Fotoband heraus. Los Crudos formierten | |
sich 2012 wieder. Eine Freundin hatte Los Crudos gebeten, ein | |
Benefizkonzert für die Kosten der Krebsbehandlung der kalifornischen | |
Transgender-Punk-Aktivistin Sarah Kirsch zu spielen. Die Band sagte zu, | |
doch noch vor dem Konzert starb Kirsch. Mit dem Erlös aus dem Konzert | |
wurden die Kosten für die Beerdigung gedeckt. | |
Seither ist die Band wieder aktiv. „Die Szene hat immer noch etwas | |
Illegales, Wildes, Verzweifeltes und Kreatives an sich“, freut sich der | |
mittlerweile ergraute Sorrondeguy. Das kann man auch von Los Crudos | |
behaupten: Bei ihrem ausverkauften Konzert in Hamburg prügeln die vier | |
Musiker die wütenden Songs in Überschallgeschwindigkeit runter. | |
Gentrifizierung, wachsender Rassismus in den USA und der Wahlsieg des | |
„Clowns Trump“ sind für Los Crudos Katalysatoren – auch wenn sie inzwisc… | |
nicht mehr so ausgedehnt touren können. „Die Texte von Los Crudos und | |
alles, wofür wir stehen, sind für uns noch immer wichtig; mehr als je | |
zuvor, mit Donald Trump und der Altright-Bewegung.“ | |
Inzwischen planen Los Crudos neue Songs. Sie wollen junge Leute ermutigen, | |
sich nichts vorschreiben zu lassen, sondern selbst zu bestimmen, wie und wo | |
sie leben wollen. Trump habe die Faschisten ermutigt, aus ihren Verstecken | |
zu kommen. „Wir sind bereit, gegen diese Leute zu kämpfen. Uns wird es | |
immer geben; wir hauen nicht ab.“ | |
29 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Darius Ossami | |
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