# taz.de -- Konzerte von Gal Costa und Gilberto Gil: Gewisse Komplizenschaft | |
> Die Stars Gal Costa und Gilberto Gil sind Mitbegründer der | |
> brasilianischen Tropicália-Bewegung. Nun kommen sie für Konzerte ins HKW | |
> nach Berlin. | |
Bild: Gal Costa und Gilberto Gil, hier gemeinsam bei einem Konzert in Hamburg | |
Das Jahr 1969 war eigentlich ein Düsteres für Brasilien: Denn nun griff der | |
im Dezember des Vorjahres von den Militärs verabschiedete Erlass AI-5, der | |
die Bürgerrechte außer Kraft setzte. Oppositionelle wurden verhaftet oder | |
verschwanden, Künstler:Innen drangsaliert. | |
Auch die Sänger [1][Gilberto Gil] und Caetano Veloso wurden aufgegriffen; | |
beide waren Mitte 20, der eine ein Schwarzer mit kurzen Afro, der andere | |
ein schmächtiger androgyner Weißer. Nach monatelangem Hausarrest mussten | |
sie das Land verlassen und emigrierten nach London. | |
Andere blieben in Brasilien und versuchten unter dem Radar der Zensur | |
fortzuführen, was in Form der Compilation „Tropicália ou Panis et | |
Circencis“ ([2][„Tropicália oder Brot und Spiele“]) 1968 für Aufregung | |
gesorgt hatte – eine kulturell-politische Bewegung um Gil, Veloso, die | |
Sängerin Gal Costa, den Multiinstrumentalisten Tom Zé und die | |
Psychedelic-Rockband Os Mutantes. | |
Indem die Musiker:innen propagierten, das Eigene mit dem Fremden zu | |
vermischen, revolutionierten sie die Unterhaltungsmusik Brasiliens und | |
schrieben unter dem Namen Tropicália (aka Tropicalismo) Geschichte. | |
## E-Gitarren und Orgeln vom Klassenfeind | |
Die jungen Ikonoklasten stammten überwiegend aus Salvador de Bahia und | |
fusionierten die reiche afrobrasilianische und indigene Folklore Brasiliens | |
furchtlos mit verzerrten E-Gitarren und wabernden Farfisa-Orgeln. Dieser | |
Einfluss aus den imperialistischen USA gefiel übrigens einem Teil der | |
brasilianischen Linken überhaupt nicht, worüber sich vor allem Caetano | |
Veloso heftige Auseinandersetzungen lieferte. | |
Gal Costa hat mit ihrer umwerfenden, transparenten Stimme viele der | |
lyrischen Songs aus der Feder Caetanos bekannt gemacht. Auch die Sängerin | |
mit der mächtigen dunklen Lockenmähne kommt aus Salvador de Bahia. Die | |
Stadt wurde in den 1950er Jahren zur [3][„diasporischen Zentrale | |
afrikanischer Kultur in Brasilien“] (Diedrich Diederichsen) und die dortige | |
Uni, an der auch europäische Emigranten wie die Komponisten Hans-Joachim | |
Koellreutter und Walter Smetak lehrten, zum Treffpunkt von Modernisten aus | |
aller Welt. | |
In diesen Bohemezirkeln bewegten sich Gal Costa, Gilberto Gil und Caetano | |
Veloso. Zusammen mit Velosos Schwester, der Sängerin Maria Bethânia, hatten | |
die drei bereits 1964 eine Musikshow zur Einweihung des Theaters Vila | |
aufgeführt. Der Durchbruch gelang Gal aber erst im besagten Jahr 1969, als | |
sie schon nach Rio des Janeiro übergesiedelt war und gleich zwei Alben | |
vorlegte. | |
## Kammerpop und hippiesk nonkonform | |
Zwischen Big-Band-orchestriertem Kammerpop à la Brasil und hippiesker | |
Nonkonformität angesiedelt, sind beide Werke längst Klassiker der | |
[4][„Música Popular Brasileira“] (MPB). Das Debüt („Gal Costa“) ist n… | |
vom Bossa Nova geprägt. Es enthält Hits wie Gals mit Streichern unterlegten | |
Erkennungssong „Baby“, das von Gil und Veloso komponierte barocke „Divino | |
Maravilhoso“ und Jorge Bens (in Gals Version absolut betörendes) „Que pena | |
(ele já não gosta mais de mim)“ – „Wie schade (er mag mich nicht mehr)�… | |
Das zweite Album („Gal“) klingt dagegen experimenteller und | |
psychedelischer. In der Reihe „HKW do Brasil“ gastieren nun innerhalb einer | |
Woche zunächst Gilberto Gil (5. 7.) und dann auch Gal Costa (13. 7.) im | |
Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) – bei gutem Wetter auf der | |
Dachterrasse. Gil ist fast schon Stammgast im HKW, seit er dort als | |
Kulturminister der linken Regierung unter Präsident Lula zur Fußball-WM in | |
Deutschland 2006 das Kulturfestival „Copa da Cultura“ veranstaltet hat. | |
## Seltene Auftritte | |
Umso mehr kann man sich auf Gal Costa freuen, deren Auftritte hierzulande | |
Seltenheitswert haben. Dabei fühlt sich die heute 76-Jährige nirgendwo so | |
wohl wie auf der Bühne. Konzerte zu geben, sei „kreativer und | |
demokratischer“, als ins Studio zu gehen, hat sie in einem Interview | |
erklärt. Wer ihre einzigartige, klare und durchdringende Stimme je gehört | |
hat, wird sie jedenfalls nicht mehr so schnell vergessen. | |
Mit dem Poeten Caetano Veloso habe sie zwar eine „engere musikalische | |
Verbindung“ als mit dem inzwischen 80-jährigen Gilberto Gil. Aber auch mit | |
ihm verbinde sie eine „gewisse Komplizenschaft“, sagt Gal. Sie bewundere in | |
erster Linie Gils rhythmische Finesse und seinen Wagemut, Neues zu | |
erkunden. „Damals haben wir viel Musik zusammengehört, neue Sachen wie Jimi | |
Hendrix und die Beatles.“ Bis heute scheint die persönliche Chemie zwischen | |
beiden zu stimmen: „Ich bin leicht zu handhaben, und Gil ist es auch.“ | |
Von ihrer künstlerischen Zusammenarbeit zeugen unter anderem der Mitschnitt | |
eines berührenden [5][Akkustik-Konzerts] von beiden während Gils Exil 1971 | |
in London und Gals von Gil nach seiner Rückkehr produziertes Album „Índia“ | |
(1973). Doch Gil hat auch ihr erstes veröffentlichtes Lied geschrieben – | |
das programmatische Bossa-Stück [6][„Eu vim da Bahia“] (1965): „Ich komme | |
aus Bahia“. Über 50 Jahre später singt Gal Costa schließlich: „Ich bin d… | |
Tochter aller Stimmen, die vor mir da waren / Ich bin die Mutter all der | |
Stimmen, die nach mir kommen.“ | |
In Berlin präsentiert Gal in kleiner Besetzung neue Arrangements ihrer | |
vielen Hits und Lieder aus ihrem aktuellen Album „As várias pontas de uma | |
estrela“. Den Auftakt macht aber Gilberto Gil, unterstützt von Familie und | |
Freund:Innen – mit einer Hommage an die musikalische Vielfalt. | |
5 Jul 2022 | |
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[5] https://www.youtube.com/watch?v=-JnnYd3svBQ&list=PLsYFv2PLHYDyJvUT_j4jK… | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=0g6EwEmT3lw | |
## AUTOREN | |
Ole Schulz | |
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