# taz.de -- Gilberto Gil in Hamburg: Energievolle Musik über Medizin | |
> Ansteckende Energie: Der brasilianische Popstar Gilberto Gil spielte am | |
> Sonntag in der ausverkauften Hamburger Elbphilharmonie. | |
Bild: Gilberto Gil, hier bei seinem Münchner Konzert, Ende Juli | |
Nichts entsteht aus dem Nichts, und kein Mensch ist eine Insel. Es sind | |
immer Verkürzungen, aus der Notwendigkeit – die Begrenzung, die bewusst | |
verknappte Erzählung, die Unausweichlichkeit der schnellen Aufbereitung – | |
und bisweilen auch aus Passivität und Bequemlichkeit geborene | |
Vereinfachungen, die aus Teilen eines Netzwerks gegenseitiger Beeinflussung | |
die vermeintlich alleinigen Begründer, Urheber, Erfinder von Bewegungen, | |
Stilen, Trends machen: wie etwa [1][Gilberto Gil, „Erfinder“ des | |
Tropicalismo]. | |
Die Wurzeln des Tropicalismo aber, jener kulturpolitisch-ästhetischen | |
Bewegung, für die Gilberto Gil steht und die die Prinzipien der Vermischung | |
von Eigenem und Fremdem ausrief, lassen sich bereits deutlich vor Gils Zeit | |
verorten: 1922 fand in São Paulo die „Woche der Modernen Kunst“ statt, | |
Zündungspunkt der Brasilianischen Moderne und frühes Musterbeispiel in | |
Sachen Interdisziplinarität. | |
Unter den prägenden Figuren dieser Zeit: der Schriftsteller Oswald de | |
Andrade, Verfasser des berühmten Manifesto Antropófago, in dem in | |
angemessen großkotziger Haltung das Zeitalter der symbolischen | |
Menschenfresserei ausgerufen wird. So wie die indigenen Völker Brasiliens | |
ihre Feinde verspeisten, um deren Kraft in sich übergehen zu lassen, so | |
galt es nun, sich die Kultur des europäischen Kolonisators einzuverleiben, | |
sie mit den eigenen indigenen und afrikanischen Wurzeln durch den | |
Fleischwolf zu drehen und sie als ureigenes Angeeignetes wieder | |
auszuspucken. | |
Nichts entsteht aus dem Nichts, und kein Mensch ist eine Insel. Wenn das | |
jemand weiß, dann ist das Gilberto Gil, der stets auf seine Beeinflussung | |
durch andere Musiker_innen verwiesen hat. So auch am Sonntagabend in der | |
ausverkauften [2][Hamburger Elbphilharmonie], ein Abend, der in weiten | |
Teilen der Aufführung seines neuen Albums „Ok Ok Ok“ gewidmet ist. | |
## Musik über Biopsien | |
„Ok Ok Ok“ ist Gils erstes wirkliches Alterswerk, entstanden in einer Zeit | |
schwerer Krankheit – er litt am kardiorenalen Syndrom und musste mehrmals | |
operiert werden. Das äußert sich textlich nicht nur in der Thematisierung | |
von Tod und Vergänglichkeit, sondern bietet ganz konkret Einsichten in ihre | |
Behandlung. So etwa im zweiten Stück des Abends mit dem Titel „Quatro | |
Pedacinhos“ („Vier Stückchen“), das von einer Biopsie und der Ärztin, d… | |
diese durchführte, handelt. | |
Andere Stücke sind (musikalischen) Weggefährten wie Yamandú Costa und der | |
Familie – dem Enkel („Sereno“), der Urenkelin („Sol de Maria“) – ge… | |
Gerührtheit stellt sich ein, als Gil das philosophische „Se eu quiser falar | |
com Deus“ [3][dem kürzlich verstorbenen João Gilberto] zueignet. | |
In Anbetracht der allgegenwärtigen geistigen und innertextuellen Präsenz | |
von Freunden und Familie ist es nur folgerichtig, dass sich auf der Bühne | |
Familienmitglieder aus der umfangreichen „Equipe Gil“ wiederfinden: seine | |
Tochter Nara (Gesang) sowie die Söhne Bem Gil (Gitarre, Effekte) und José | |
Gil (Schlagzeug). Bei „Goodbye, my girl“ vervollständigt die zehnjährige | |
Flor Gil als souveräne Gesangspartnerin des Großvaters die anwesende | |
Verwandtschaft. | |
Die erste Hälfte des Konzerts enthält einige ruhige und unbekannte Stücke, | |
die außerdem im Sitzen vorgetragen werden. Vielleicht klingt Gilberto Gils | |
Stimme etwas brüchiger, vielleicht sitzt nicht mehr jeder Sambaschritt – | |
insgesamt ist es jedoch erstaunlich und mitreißend, mit welcher Energie der | |
77-Jährige das Publikum durchs Konzert führt und selbst die ZuschauerInnen, | |
die seine Musik nicht kennen, spätestens bei den Zugaben von den Sitzen zu | |
holen vermag. | |
Eine solche Energie verdankt sich Gils eigener Aussage nach dem | |
Aufgehobensein in der großen Familie, bestehend aus Gleichgesinnten im | |
Angesicht „schwieriger Zeiten“ (der einzige, sehr verdeckte Hinweis des | |
ehemaligen Kulturministers Gil auf die aktuelle Situation in Brasilien). | |
Und sie verdankt sich der steten Erneuerung und Vermischung, dem | |
Weitermachen und dem, wie es im Manifesto Antropófago heißt, Überwinden von | |
„Ideen und anderen Lähmungen. Durch Entwürfe. Den Zeichen glauben, den | |
Instrumenten glauben und den Sternen.“ | |
12 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Ueberblick-zu-Musik-aus-Brasilien/!5614961 | |
[2] /Ein-Jahr-Elbphilharmonie/!5472052 | |
[3] /Nachruf-auf-Joo-Gilberto/!5605813 | |
## AUTOREN | |
Ebba Durstewitz | |
## TAGS | |
Gilberto Gil | |
Hamburg | |
Elbphilharmonie | |
Brasilien | |
Brasilien | |
Brasilien | |
Konzert | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wiederentdeckung von Walter Smetak: Seltsames mit magischen Kräften | |
Die neu aufgelegten Alben des brasilianisch-schweizerischen Komponisten | |
Walter Smetak offenbaren einen singulären Klangkosmos. | |
Überblick zu Musik aus Brasilien: Tupi or not Tupi | |
Eintauchen in brasilianische Musik: Alben von Gilberto Gil, Maga Bo & Coco | |
Raízes de Arcoverde, Werther und Carioca verdienen es, entdeckt zu werden. | |
Nachruf auf João Gilberto: Meister der Melancholie | |
João Gilberto prägte eine neue Form des Singens: leise, unschuldig, | |
unmaskulin. Nun ist die Bossa-Nova-Legende mit 88 Jahren verstorben. | |
Gilberto Gil im Haus der Kulturen der Welt: Immer locker in der Hüfte | |
Bei Gilberto Gils Konzert im HKW stand sein nach einem Nigeriabesuch 1977 | |
entstandenes Album „Refavela“ im Mittelpunkt. Das groooovte mächtig. |