# taz.de -- Nachruf auf João Gilberto: Meister der Melancholie | |
> João Gilberto prägte eine neue Form des Singens: leise, unschuldig, | |
> unmaskulin. Nun ist die Bossa-Nova-Legende mit 88 Jahren verstorben. | |
Bild: Bei allen Erfolgen blieb er eine menschenscheue Leidensgestalt: João Gil… | |
Die Stimme ist weg. Mit João Gilberto ist der Mann verstummt, der der Welt | |
eine neue Art zu singen schenkte und damit einem ganzen Universum neuer | |
künstlerischer Positionen eine Ausdrucksmöglichkeit gab. Wobei diese Stimme | |
kein Zufallsprodukt war, nichts, womit er zufällig nun mal geboren war, | |
sondern das Ergebnis einer gezielten Suche und harter, | |
selbstzerfleischender Arbeit. | |
João Gilberto do Prado Pereira de Oliveira (João Gilberto ist also sein | |
Vorname) kam am 10. Juni 1931 in dem 10.000-Seelen-Nest Juazeiro im | |
brasilianischen Bundesstaat Bahia als Sohn eines wohlhabenden Unternehmers | |
zur Welt. Als Jugendlicher fiel er durch extreme Musikalität auf, als | |
Teenager erlangte er mit einem Gesangsquartett lokale Berühmtheit. Sein | |
Vorbild war der legendäre Crooner Orlando Silva. In frühen Jahren | |
trainierte er seine Tenorstimme auf Imitationen des Meisters. | |
1950 machte er sich 19-jährig auf nach Rio und sang in Bands, dank seines | |
Talents zur Imitation oft auch in Werbespots. Sogar ein paar 78er Singles | |
durfte er veröffentlichen. Es bemerkte bloß kaum jemand. Vielleicht, weil | |
er noch zu nahe an seinem Vorbild Silva hing. Als er schließlich entmutigt | |
und pleite auf Anraten eines Freundes die Stadt verließ, fiel das kaum | |
jemandem auf. Er quartierte sich schließlich für eine Weile bei seiner | |
Schwester Dadainha in der Kleinstadt Diamantina ein. Dort perfektionierte | |
er seinen synkopierenden Gitarrenstil im Badezimmer mit dessen intimer | |
Akustik – und fand nach Monaten schließlich zu einer ganz neuen Stimme. | |
Die Zeit war reif für ein anderes Singen. Dank der Mikrofontechnik war es | |
nicht mehr nötig, mit der Stimme Theatersäle zu beschallen. Dennoch war die | |
klassisch trainierte voluminöse Stimme mit Vibrato und dramatischem Gestus | |
auch in der populären Musik weltweit das Maß der Dinge. In den USA begann | |
sich das zu ändern, als Harry Smith 1952 mit seiner „Anthology of American | |
Folk Music“ ein ganzes Kompendium anderer, unbekannter Gesangsmodi aus der | |
Blues- und Hillbilly-Welt präsentierte. Dank ihrer traute sich dann ein Bob | |
Dylan zu knarzen, wie ihm der Schnabel gewachsen war. | |
## Bis an die Grenze zur Unhörbarkeit | |
João Gilbertos Ansatz war ein anderer. Es wollte sich wohl so weit wie eben | |
möglich vom dramatischen Macho-Crooner seiner Tage entfernen. João sang | |
leise bis an die Grenze zur Unhörbarkeit, seine Attitüde war die einer | |
kindlichen Unschuld, einer melancholischen Hilflosigkeit und wirkte eher | |
unmaskulin. Mit diesem Singen öffnete er das Ausdrucksspektrum für | |
Positionen der Melancholie, des Losers und für ein Universum der | |
Zwischentöne, die der Zwang zum Drama vorher nicht zugelassen hatte. | |
João Gilberto wusste offenbar, dass er eine bedeutende Entdeckung gemacht | |
hatte. Strotzend vor Selbstbewusstsein reiste er zurück nach Rio. Einer der | |
Ersten, die seine neue Musik hörten, war der Gitarrist und Komponist | |
Roberto Menescal. Laut Ruy Castros Buch „Bossa Nova – The Sound of Ipanema�… | |
konnte Menescal nicht glauben, was er hörte: „João Gilbertos Stimme war ein | |
Instrument – genauer gesagt: eine Posaune – von höchster Präzision, und er | |
ließ jede Silbe auf den jeweiligen Akkord fallen, als ob die beiden | |
zusammen entstanden wären. Was insofern besonders erstaunlich war, als der | |
Mann in einer anderen Geschwindigkeit spielte, als er sang …“ | |
Menescal schnappte sich João, um ihn seinen Freunden vorzuführen. „In nur | |
einer Nacht und dem darauf folgenden Tag (niemand schlief) öffnete er ihre | |
Augen für eine brasilianische Musik, die viel reicher war, als sie es je | |
für möglich gehalten hatten. In dieser Nacht war João Gilberto die | |
Personifizierung dessen, was sie die ganze Zeit gesucht hatten, ohne es zu | |
wissen.“ | |
Nicht nur für sie. Mit der Antônio-Carlos-Jobim-Komposition „Chega de | |
saudade“ gelang João 1959 der Durchbruch in Brasilien, mit dem gemeinsam | |
mit Stan Getz eingespielten Album „Getz/Gilberto“ und dem Hit „The Girl | |
From Ipanema“ (ebenfalls aus der Feder von Jobim) wurde 1964 der Rest der | |
Welt aufmerksam. Bossa Nova konnte es an Popularität in den 1960er Jahren | |
mit dem Liverpool Beat und Tamla Motown aufnehmen. Neben der | |
Bossa-Rhythmik und den Harmonien war dabei der leise, sanfte Gesang das, | |
was den größten nachhaltigen Einfluss auf Musikerkollegen von Nick Drake | |
bis Sade, von James Taylor bis Chan Marshall ausübte. | |
João Gilberto blieb bei allen Erfolgen ein Exzentriker, ein Getriebener, | |
eine menschenscheue Leidensgestalt. Er spielte in jüngerer Zeit Alben | |
unterschiedlicher Qualität ein; sein letztes, „João voz e violão“, | |
produzierte im Jahr 2000 Caetano Veloso, der nicht müde wird zu bekunden, | |
dass auch er und die bilderstürmerischen Tropicalisten der Spätsechziger | |
João Gilberto alles zu verdanken haben. | |
Anekdoten über ihn gibt es viele – über seine Exzentrik, seine | |
Untüchtigkeit in praktischen Dingen – und seinen Marihuanakonsum. Weiter | |
kam auch der Hamburger Autor Marc Fischer nicht, der in den 2000er Jahren | |
versuchte, ihn in Rio zu stellen und zu befragen, worüber sein brillantes | |
Buch „Hobalalá: Auf der Suche nach João Gilberto“ (2012) Zeugnis gibt. | |
Zuletzt gab es mal wieder Gerüchte über erhebliche finanzielle Probleme, | |
die ihn offensichtlich auch zwangen, seine langjährige Wohnung zu | |
verlassen. Am Samstag starb João Gilberto 88-jährig in Rio. | |
7 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
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