# taz.de -- Brasilianischer Musikstar Marcos Valle: „Ich glaube, ich wurde au… | |
> Der Musiker Marcos Valle ist in Brasilien ein Superstar, soeben erschien | |
> sein Album „Sempre“. Im Gespräch erzählt er, wie Rhythmus sein Leben | |
> prägt. | |
Bild: Marcos Valle bleibt trotz Bolsonaro in Brasilien – weil er zwei Söhne … | |
taz: Herr Valle, wie gelingt es Ihnen, stets aufs Neue immer gültige Songs | |
und Arrangements zu komponieren, so wie auf Ihrem aktuellen Album „Sempre“? | |
Marcos Valle: Während der Kompositionsarbeiten hatte ich sehr viele | |
Inspirationen, sie kamen unaufhörlich zu mir, wofür ich sehr dankbar bin. | |
Wenn ich mit dem Schreiben neuer Musik beginne, setze ich mich ans Klavier | |
oder an die Gitarre, und sofort formen sich aus Ideen erste Muster. | |
Manchmal konzentriere ich mich dabei mehr auf die Melodien und Harmonien, | |
aber der Rhythmus in mir ist immer gleich stark. Im Wesentlichen, das ist | |
die Art und Weise, wie ich komponiere, lasse ich die Ideen einfach reifen, | |
und zum Glück … sie kommen! | |
Die Klangpalette von „Sempre“ reicht auch in die siebziger und frühen | |
achtziger Jahre, sie stellt eine Verbindung zu Ihren Alben „Vontade De | |
Rever Você“ und „Estrelar“ her. Ist die Zeit für Disco wieder reif? | |
Die Sache ist die, seit 2010 hatte ich einige gemeinsame Alben mit den | |
brasilianischen Altmeistern Edu Lobo, Dori Caymi, João Donato und Roberto | |
Menescal aufgenommen, das waren meist traditionelle, klassische Songs und | |
Bossa Novas, sowie ein Jazz-Album mit der US-Sängerin Stacey Kent. Darum | |
wollte ich wieder zur anderen Seite meiner Musik gehen, zum Groove. | |
Witzigerweise hatte Joe Davis, Chef des Labels Far Out, die gleiche Idee, | |
und er fragte mich, ob ich ein Album machen möchte, das Bezug nimmt auf | |
„Vontade“ und „Estrelar“, zumal Letzteres jüngst zum Hit in Clubs auf … | |
ganzen Welt geworden ist. | |
Dementsprechend sind die Songs überwiegend positiv gestimmt. In den | |
Songtexten behandeln Sie allerdings auch ernsthafte Themen. | |
Aber auf unterschiedliche Weise drücken sie alle aus, wo ich mich heute | |
sehe und wie ich denke. Zum Beispiel ist „Alma“ ein Liebeslied über die | |
vielen Begegnungen, die wir im Leben haben. Vor allem für junge Menschen | |
ist alles immer schneller und schneller, und die Menschen sind immer | |
stärker miteinander vernetzt. Aber häufig können diese Treffen | |
oberflächlich sein, und so vergessen wir sie. Darum erzähle ich auf „Alma“ | |
die romantische Geschichte einer Begegnung voller Sinn und Seele. Bei „Olha | |
Quem Ta Chegando“ geht es um Korruption. Das passiert jeden Tag zwischen | |
Politik und Wirtschaft … und das nicht nur in Brasilien. Es ist eine | |
Situation, über die ich reden musste, aber mit Humor und Sarkasmus. Sempre | |
bedeutet „Immer“, und so sehe ich das Leben. Du musst weiterhin aktiv | |
bleiben, positiv denken und handeln. Was auch immer es ist, mach es einfach | |
und mache es jetzt. Denke nicht an die Vergangenheit oder Zukunft, sondern | |
nur an das Jetzt. Auf „Sempre“ geht es also darum, Veränderungen zu | |
akzeptieren, Vorurteile zu vermeiden und im gegenwärtigen Moment zu leben. | |
Welche Stimme meinen Sie mit „E Voce“? | |
Der Song „E Voce“ ist für meine Frau komponiert. Wir sind seit langer Zeit | |
zusammen und führen trotzdem eine funktionierende Beziehung. Ich singe: | |
„Selbst wenn du schweigst, kann ich deine Stimme hören; selbst wenn ich | |
meine Augen schließe, kann ich dich sehen.“ Stille bringt Klarheit, sie | |
gibt mir die Möglichkeit, auf meine Seele zu hören. Man braucht Stille, um | |
auf andere Menschen zu hören, aber auch auf sich selbst. Ich denke, dass | |
Musik auf diese Weise sehr spirituell ist. Ich glaube nicht, dass ich all | |
diese Songs komponiert habe und eine großartige Karriere hatte, weil ich | |
ein Genie bin. Ich glaube, ich wurde dafür ausgewählt. Ich glaube an ein | |
höheres Wesen, nenne es meinetwegen Gott. Und ich denke, es ist eine | |
spirituelle Sache, die ich erhalten habe. Das muss ich mit Sorgfalt und | |
Liebe behandeln, und das tue ich auch, wenn ich Musik kreiere. Also, in all | |
meinen Liedern spreche ich immer über mein Leben und meine Gefühle. | |
Sie haben die Phase der Militärdiktatur in Brasilien noch selbst erlebt. | |
Seit letztem Jahr regiert dort wieder eine rechtsgerichtete Regierung. Wie | |
denken Sie darüber? | |
Es gibt heute eine Tendenz in vielen Teilen der Welt, nicht nur in | |
Brasilien, sondern auch in den USA und Europa, in der Politik nach rechts | |
zu gehen. In Brasilien hatten wir zwölf Jahre eine linke Regierung. Die | |
ersten vier Jahre mit Lula da Silva waren sehr gut, die Leute liebten ihn. | |
Seine zweite Amtszeit war auch noch okay, aber mit Dilma Rousseff begannen | |
Probleme durch Korruption. Wir Brasilianer wurden enttäuscht und | |
desillusioniert über das, woran wir vorher glaubten, und das öffnete | |
letztlich die Tür zu einem ultrakonservativen Wandel und führte zu | |
Bolsonaros rechtsgerichteter Regierung. Wegen meiner beiden Söhne, sie sind | |
25 und 26, bleibe ich im Land und arbeite mit meinen bescheidenen Mitteln | |
daran, dass es wieder besser wird. Darüber singe ich auch in meiner Musik. | |
Welche Erinnerungen verbinden Sie mit den späten Siebzigern, als Sie mit | |
ihrem Boogie-Disco-Funk die Jugend zum Tanzen brachten? | |
Meine Einstellung zum Leben war immer sehr positiv, ich bin Optimist, und | |
das habe ich versucht, an meine Söhne weiterzugeben. Ein gutes Gefühl | |
verschafft es mir, wenn ich Menschen zum Tanzen bringen kann. In meinem | |
Kopf bin ich auch ein sehr guter Tänzer, von außen betrachtet dann | |
vielleicht doch nicht so (lacht). Eigentlich tanze ich die ganze Zeit, | |
beinah ständig pulsiert der Rhythmus in mir und meine Finger bewegen sich. | |
Ich fühle mich also sehr vom Rhythmus angezogen, er gehört ganz natürlich | |
zu mir. „Sempre“ gibt mir definitiv dieses Gefühl und bringt großartige | |
Erinnerungen zurück. Aber ich lebe nicht in der Vergangenheit, sondern im | |
Moment. Die neuen Stücke kommen sehr gut beim Publikum an, es reagiert mit | |
genauso viel Begeisterung wie auf die Klassiker. | |
Wie sind Sie überhaupt zur Musik gekommen? | |
Meine Großmutter und meine Mutter waren Pianistinnen, sie liebten die | |
klassische Musik. Mein Vater, der Anwalt war, liebte dagegen die populäre | |
Musik, also hörte ich von klein auf beides. Mit ungefähr fünf setzte ich | |
mich selbst an das Klavier meiner Großmutter und versuchte, Geräusche zu | |
machen. Das hörten sie, bemerkten ein Talent und beschlossen, mich zur | |
Musikschule zu bringen. Die Lehrer testeten mich und sagten, dass ich ein | |
Naturtalent habe, und überzeugten meine Eltern, dass ich Musik lernen muss. | |
So begann ich im Alter von sechs Jahren mit klassischer Musik, erlernte all | |
diese großen klassischen Komponisten und bekam dafür ein Hörverständnis. | |
Aber zur gleichen Zeit hörte ich den populären Musikern Brasiliens zu und | |
fing an, Alben zu kaufen, nicht nur brasilianische, auch viel Jazz, Rock, | |
Pop und Black Music, es waren damals so viele Einflüsse. Dazu kam dann auch | |
noch unsere Bossa Nova. Mein Stil war also immer schon sehr vielfältig. | |
Sie sind jetzt seit weit über 50 Jahren als Musiker aktiv. Was macht nach | |
so vielen Jahren immer noch den Reiz dieser Kunst für Sie aus? | |
Tatsächlich habe ich heute mehr Freude am Spielen und Reisen um die Welt | |
als je zuvor. Es ist mein Leben, das ich damals als ganz junger Kerl für | |
mich gefunden hatte. Seitdem brauche ich Musik. Und ich habe weiterhin das | |
Bedürfnis, neue Musik zu erschaffen, nicht nur die alten Songs aus der | |
Vergangenheit zu spielen. Ich bin sehr dankbar, dass die Inspiration immer | |
noch zu mir kommt, so viele Ideen und Möglichkeiten. Ich liebe meine Frau, | |
ich liebe meine Söhne, die Familie ist absolut wichtig in meinem Leben. | |
Aber Musik ist meine Seele. | |
17 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Olaf Maikopf | |
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