Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nachruf auf US-Kritiker Greg Tate: Von morgen auf heute blicken
> Der afroamerikanische Musiker und Kritiker Greg Tate ist am Dienstag
> überraschend in New York gestorben. Nachruf auf einen formidablen Denker.
Bild: Viel zu früh gestorben: Greg Tate (hier eine Aufnahme von 2005)
Ich lernte Greg Tate Anfang 1992 durch Renée Green kennen. Wir sprachen
über Themen wie HipHop und Antisemitismus, Black Nationalism und die Linke
und er sagte gleich beim ersten Treffen den Satz über die deutsche, weiße,
europäische HipHop-Rezeption, den ich ein halbes Jahr später als Motto über
einen Aufsatz in Spex setzte, der sich mit der politischen
Unzuverlässigkeit popmusikalischer Aufstände beschäftigte: „Ich liebe es,
wie das Zeug bei euch Verwirrung stiftet.“
Renée filmte das Gespräch für ihre rezeptionstheoretische Installation
„Import-Export: The Funk Office“, die zufälligerweise gerade jetzt in den
Berliner Kunstwerken als Teil ihrer Retrospektive zu sehen ist. Ich stellte
damals für die Edition ID Archiv einen Reader mit afrodiasporischer
Kulturkritik zusammen, „Yo! Hermeneutics!“, dessen Titel und mehrere
Beiträge wurden ebenfalls vom Ironman beigesteuert, wie sich Greg Tate
damals in einigen seiner Kolumnen nannte.
In den ersten Nachrufen auf Greg Tate, der am 7. Dezember mit 64 Jahren
starb, wird er als „Godfather of HipHop Writing“ gefeiert, aber auch als
„Chronist der Schwarzen Avantgarde“, was die Sache noch besser trifft, denn
weder auf HipHop noch auf Musik hat er sich beschränkt, zuletzt las man von
ihm über den Maler Kerry James Marshall und eine, verglichen mit dem
Gegenstand, fast schon heitere, aber dennoch zutiefst beeindruckte
Rezension von „Afropessimism“, dem Manifest von Frank B. Wilderson III.
## Einzigartige Schriftstimme
Vor allem aber hatte Tate eine einzigartige, unvergessliche Schriftstimme:
Man erkannte seinen Ton auf Anhieb, er schrieb einen aus seiner Idee von
Jazz-Vernacular, ungebremstem Rap-Einfallsreichtum, radikaler politischer
und postmodern-theoretischer Sprache zusammengebrauten verführerischen Mix,
bei dem Behauptung und Beschreibung, freundliche Pointenüberraschungen und
nicht weniger freundlich daherkommende Sarkasmen, ja Beleidigungen, sich in
verführerischer Dichte abwechselten.
Robert Christgau, der ihn zu New Yorks seinerzeit massiv einflussreichem,
zahlreiche Autor_innen-Karrieren lancierenden Stadtmagazin The Village
Voice holte, soll in ihm, so Tate, den „schwarzen Lester Bangs“ gesehen
haben. Bald folgten ihm weitere Schwarze Autor_innen nach (wie dream
hampton, Barry Michael Cooper, Scott Poulson-Bryant).
Bald entstanden aber auch weitere Schwarze Publikationen, die auf den auch
die politische und theoretische Fantasie anheizenden HipHop-Boom Bezug
nahmen und die Tate als markanteste Stimme belieferte, etwa die von Quincy
Jones initiierte, ambitionierte glossy Illustrierte Vibe.
## Mystisches drittes Ohr
Tate bezeichnete sich als „Black Bohemian Nationalist“ – ideal wäre für…
die harmonische Loyalität zu beiden Bestimmungen, Bohemianism und Black
Nationalism, gelegentlich müsse er aber auch die Entscheidung für nur eine
der beiden Orientierungen treffen. Später variierte er, er habe ein Ohr für
die Straße, eines für Academia und dann noch ein mystisches drittes Ohr für
die Boheme-Ecken von Brooklyn.
Die 1990er, die Zeit, in der sein Schreiben stetig an Einfluss zulegte, war
einerseits durch eine Renaissance Schwarzer Kunst, Literatur, Kino und
Musik – und neuer Schwarzer Theorie-Stars gekennzeichnet: bell hooks, Henry
Louis Gates jr., Cornel West oder Michele Wallace, hier konnte sich Tate
einreihen. Andererseits war es eine Zeit eines massiv aufflackernden neuen,
alten Rassismus, der seine Antwort nicht zuletzt in dem Aufstand in Los
Angeles fand, nachdem die Polizisten, die auf einem Video erkennbar das
afroamerikanische Verkehrskontrollenopfer Rodney King hemmungslos
misshandelt hatten, freigesprochen worden waren. Klingt alles leider nicht
ganz unvertraut, oder?
In diese Zeit fiel auch Tates Entdeckung oder Lancierung des Begriffs oder
Programms Afrofuturismus als nachträglicher Überbau verschiedener
afrodiasporischer Musikvisionen in Funk, Jazz und Reggae. Meist wird die
Erfindung des Begriffs dem Medientheoretiker und -journalisten Mark Dery
zugeschrieben, doch der hatte selbst schon Tate die Credits gegeben: Die
Werke George Clintons, [1][Sun Ras] und [2][Lee Perrys] zusammendenkend,
dazu die Schwarz-queeren Sci-Fi-Ideen von [3][Octavia Butler] und Samuel
Delany, entdeckte Tate in der afrodiasporischen Kultur eine Konvergenz von
politischer Utopie und posthumaner Technophilosophie, die eben gerade nicht
auf Roots bezogen war, wie so viele afrodiasporische Diskurse der 1970er,
sondern von einer postrevolutionären Zukunft aus auf die Gegenwart blickte.
## Loving the Alien
Ich lud Tate 1997 zu unserem afrofuturistischen Konferenz- und
Konzertwochenende „Loving The Alien“ in die Volksbühne ein, wo er seine
Ideen auch gegenüber Mitstreiter_innen wie Kodwo Eshun, Skiz Fernando jr.,
Dietmar Dath, Renée Green und [4][Paul Gilroy] erläuterte. Man sah ihn auch
später hin und wieder in Berlin und Köln, etwa im HAU und auch wieder in
Sachen Sun Ra.
Tate war eigentlich Musiker und wurde es wieder in zunehmenden Maßen in den
letzten 20 Jahren. Als Rock-, Funk- und Hendrix-Fan, als Gitarrist und
Bassist war es ihm ein Anliegen, Rockmusik wieder als einen Bestandteil
schwarzer Kultur zu begreifen und gewürdigt zu wissen: Die von ihm und
Vernon Reid (Living Color) noch in den 1980ern begründete Black Rock
Coalition trug dazu einiges bei, ebenso Tates grandiose Texte über [5][Bad
Brains], James „Blood“ Ulmer, Peter Cosey und andere elektrische Schwarze
Gitarrenmusik aller Genres, schließlich seine Jimi-Hendrix-Monografie von
2003.
Im selben Jahr, also lange vor der aktuellen Debatte über Cultural
Appropriation, erschien sein Reader „Everything But the Burden: What White
People Are Taking from Black Culture“, in dem etwa Vernon Reid am Beispiel
von Steely Dan geradezu liebevoll exemplifizierte, wie Appropriation gelebt
wird. Wir lesen das nach wie vor aktuelle und trotz allem erstaunlich
verständnisvolle Buch gerade dieses Semester wieder an der Kunstakademie.
## Schnelle Pointen
Tate war einflussreich und wurde gehört, man konnte mit ihm sehr
unkompliziert und unkonventionell über alles reden, sehr schnell zu Punkten
und Pointen kommen. Was in dem Entsetzen über seinen frühen Tod besonders
wehtut, ist, wie wenig bekannt und unterstützt sein langjähriges
Musikprojekt Burnt Sugar wurde.
Tate hatte von dem ebenfalls sträflich unterbekannten Free-Jazz-Musiker,
-Dirigenten und -Komponisten Butch Morris dessen sehr spezielle
Kompositions- und Dirigiermethode gelernt und auf eine Band (die
gelegentlich zum Arkestra anschwoll) angewandt, die sich mit Strawinsky
ebenso konsequent rumschlug wie mit James Brown, Miles Davis und – eben
auch ein Favorit des vielseitigen Tate – David Bowie.
Die in den letzten 20 Jahren erschienenen mindestens zehn Alben mit Titeln
wie „More Than Posthuman: The Rise of the Mojosexual Cotillion“ sind
Dokumente einer überbordenden Brillanz, von der definitiv nicht genügend
Leute Notiz genommen haben. Auch auf den länger angekündigten Roman warten
die Fans schon eine Weile. Greg Tate war die verlässliche Stimme eines
ästhetisch politischen Fortschreitens in einer Welt, in der die
ästhetischen Spuren politischer Errungenschaften allzu oft unverstanden
vergessen oder dem vermeintlichen Zufall ihrer Schönheit zugeschlagen
werden.
9 Dec 2021
## LINKS
[1] /Blaxploitation-Scifi-Musikfilm-mit-Sun-Ra/!5613979
[2] /Nachruf-auf-Lee-Scratch-Perry/!5796802
[3] /Neuerscheinung-von-Octavia-Butlers-Wilde-Saat/!5814236
[4] /Sammelband-des-Kulturtheoretikers-Hall/!5799538
[5] https://www.villagevoice.com/2020/11/10/bad-brains-hardcore-of-darkness/
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
## TAGS
Nachruf
HipHop
Theorie
Afroamerikaner
Ausstellung
Indie
Kunst
Nachruf
Free Jazz
Brasilien
Folk Music
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausstellung Technik u. Kunst in Bozen: Die Hoffnungsmaschine
In der Kunstausstellung „Hope“ im Museion Bozen herrscht ein optimistischer
Glaube an die Gegenwart. Die liegt aber zwischen Apokalypse und Neuanfang.
Gitarrist über Punkmusik: „Wir sind keine Zeitverschwender“
Yo La Tengo veröffentlicht ihr neues Album „This Stupid World“. Gitarrist
Ira Kaplan über Entmutigung, Freundschaft – und Abschweifungen.
Die Kunst von Lynette Yiadom-Boakye: Sie malt keine Opfer
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20 in Düsseldorf: „Wenn sie pathetisch
werden, überleben sie nicht“, sagt Lynette Yiadom-Boakye über ihre Figuren.
Michael Nesmith gestorben: Dem Fake folgten die Experimente
Er gewann als Erster einen Grammy für ein Musikvideo. Seine frühen
Monkees-Erfolge erschwerten seine eigene Karriere: Michael Nesmith ist tot.
Jazzconnection Madagaskar – Frankreich: Hardbop-Blues mit Bambus-Zither
Musiker aus Frankreich und Madagaskar schufen in den 60ern eine florierende
Jazzszene. Einige mitreißende Alben der Zeit sind wieder erhältlich.
Wiederentdeckung von Walter Smetak: Seltsames mit magischen Kräften
Die neu aufgelegten Alben des brasilianisch-schweizerischen Komponisten
Walter Smetak offenbaren einen singulären Klangkosmos.
Erinnerung an US-Folksänger Phil Ochs: Poet der Nachrichtenübermittlung
Am Samstag würde Phil Ochs seinen 80. feiern. Der Protestsänger führte die
Bewegung gegen den Vietnamkrieg und schrieb Psychedelicsongs.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.