| # taz.de -- Gitarrist über Punkmusik: „Wir sind keine Zeitverschwender“ | |
| > Yo La Tengo veröffentlicht ihr neues Album „This Stupid World“. Gitarrist | |
| > Ira Kaplan über Entmutigung, Freundschaft – und Abschweifungen. | |
| Bild: Zeit ist ein relativer Begriff: Georgia Hubley, James McNew und Ira Kapla… | |
| taz: „This Stupid World“ ist das erste Album, das Ihre Band ohne fremde | |
| Hilfe aufgenommen habt. Ist das etwa eine Unabhängigkeitserklärung? | |
| Ira Kaplan: Es war nicht unser Ziel, die Musik ganz alleine aufzunehmen. | |
| Anfangs sind wir unausgesprochen davon ausgegangen, dass jemand das | |
| Abmischen übernehmen wird, wie bei allen Aufnahmen davor. Aber während wir | |
| daran arbeiteten, merkten wir, dass wir alle drei zufrieden mit unserer | |
| gemeinsamen Arbeit waren. So sehr, dass wir beschlossen: Lasst uns so | |
| weitermachen, bis zum Schluss. Musik in einem Studio aufzunehmen, ist | |
| großartig und gleichzeitig komplex. Man gibt für eine Weile seinen | |
| Alltagstrott auf, fährt an einen anderen Ort und beschäftigt sich dort rein | |
| mit Musik. So ein Einschnitt ist für uns zuletzt immer schwieriger | |
| geworden. Und wir haben gemerkt, dass wir ein neues Album auch aufnehmen | |
| können, in dem wir einige Stunden am Tag zusammen im Proberaum sind. Es war | |
| also weniger ein Schritt Richtung Unabhängigkeit als der Beweis, dass wir | |
| offenbar längst unabhängig sind. | |
| War das befreiend oder fühlte sich die Verantwortung auch beängstigend an? | |
| Vor ein paar Jahren hätte es uns noch verunsichert. Aber die beiden | |
| vorherigen Alben mit [1][John McEntire] als Produzent haben uns | |
| vorbereitet. John war sehr zurückhaltend mit seiner eigenen Meinung. | |
| Dadurch sind wir besser darin geworden, uns untereinander zu einigen, statt | |
| Entscheidungen dem Produzenten zu überlassen. Wir können das Chaos, das | |
| wir anrichten, inzwischen selbst aufräumen. | |
| Wenn man im eigenen Proberaum aufnimmt, gibt es dann überhaupt einen | |
| Startpunkt? | |
| Einen exakten Startpunkt gibt es tatsächlich nicht. Vor allem, weil James, | |
| seit er 1993 als Bassist eingestiegen ist, alle Proben mitschneidet. Heute | |
| nicht mehr auf 4-Spur oder Minidisc, sondern mit einem Computer, in | |
| Protools. Weil wir auch bessere Mikrofone angeschafft haben, sind die | |
| Mitschnitte nicht mehr nur klangliche Notizen. Der Sound ist heute so gut, | |
| dass wir viel davon zur Veröffentlichung nutzen können. Wenn wir uns dann | |
| auf der Suche nach Ideen für neue Songs durchs Material hören, merken wir, | |
| dass wir im Grunde schon seit Jahren daran arbeiten. | |
| Wie kommen Sie zum Ende? | |
| Ohne feste Studiozeit und gebuchte Rückflüge ist es schwer, einen | |
| Schlussstrich zu ziehen. Eigentlich hätte das Album im September erscheinen | |
| sollen. Wir hätten ewig weiter an der Musik basteln können. | |
| Neun Songs, mehrheitlich unter fünf Minuten: Die Musik wirkt fast | |
| zurückhaltend. Neigt eine Band ohne externe Instanz nicht zum ausufern? | |
| Zugegeben: Sich kurz zu fassen, ist nicht unsere Stärke. Ein dreiminütiger | |
| Song fällt uns viel schwerer als einer von 15 Minuten. Wir haben die | |
| Deadline auch gerissen, weil das Kürzen so lange dauerte. Aber wir sind | |
| keine Zeitverschwender. Als wir zuletzt ein 25-Minuten-Stück | |
| veröffentlichten, war es das Kondensat aus 60 Minuten. | |
| Sie mögen Abschweifungen? | |
| Normalerweise lassen wir uns als Band leicht ablenken. Und wir mögen diese | |
| Ablenkung. Diesmal haben wir uns bewusst angestrengt, fokussiert zu | |
| bleiben, nicht alles fallen zu lassen, wenn jemand nach einer Coverversion | |
| für eine Compilation fragt. Das hat geklappt, weil wir glauben, dass diese | |
| neun Songs gut zusammen funktionieren. | |
| Erstmals in der Bandgeschichte trägt ein Song den Titel des Albums. „This | |
| stupid world is killing me“ heißt es da. Nun bringt am Ende auch eine gute | |
| Welt jede und jeden von uns um. Was genau werfen Sie der Welt vor? | |
| Wenn es eine einzige Antwort auf diese Frage gäbe, hätten wir den Text | |
| geändert. Die Offenheit der Zeile macht ihre Qualität aus. | |
| Im Laufe des Albums lässt sich der Titel „This Stupid World“ mal als | |
| nüchterne Feststellung lesen, mal als Ausdruck von Wut oder Enttäuschung. | |
| Was bedeutet er für Sie? | |
| Der Albumtitel ist stark in diesen Zeiten und er ist offen für | |
| Interpretationen. Deshalb hängen wir an ihm. Ich bin misstrauisch, wenn | |
| jemand behauptet, ein bestimmtes Gefühl mit etwas verbinden zu können, das | |
| länger als eine Minute dauert. In den Monaten, die wir an diesem Album | |
| gearbeitet haben, waren wir oft wütend über und entmutigt von dieser Welt. | |
| Geht das nicht allen so? Aber dann spielten wir wieder an acht | |
| aufeinanderfolgenden Abenden Chanukka-Shows mit und vor wunderbaren | |
| Menschen und es sind die lebensbejahendsten und herzlichsten Stunden, die | |
| man sich vorstellen kann. „This Stupid World“ umarmt ein Kaleidoskop | |
| möglicher Lesarten. Deshalb heißt dieses Album so. | |
| Das klingt nach größerer Freude an Songtexten, als man von einer Band | |
| erwarten würde, die noch nie Texte abgedruckt hat. | |
| Wir schämen uns nicht für unsere Texte, aber es ist uns nicht wichtig, dass | |
| jedes einzelne Wort verstanden wird. Wilco haben uns mal zu ihrem „Solid | |
| Sound Festival“ eingeladen, bei dem die Fans ihnen Coversongs vorgaben, | |
| auch einen von uns. Wilco taten so, als ob sie unseren Song nicht konnten, | |
| damit wir ihn spielen. Und erst als ich am Ende auf den vorbereiteten | |
| Teleprompter mit dem Text schaute, merkte ich, dass er aus dem Internet kam | |
| und kaum etwas mit meiner Version zu tun hatte. Wunderbar! Als wir 1989 zum | |
| ersten Mal durch Spanien tourten, sah ich dort ein Taschenbuch [2][mit | |
| Velvet-Underground-Lyrics]. Jemand mit sehr bescheidenen | |
| Englischkenntnissen musste sie transkribiert haben. Sie waren völlig | |
| falsch, bizarr, surreal. Natürlich musste ich das Buch haben. | |
| Innerhalb eines weiten stilistischen Felds hat sich ein wiedererkennbarer | |
| Yo-La Tengo-Sound herausgebildet. Ist es Ihr Anspruch, dieses Feld zu | |
| erkunden? Oder sich weiterzuentwickeln? | |
| Nach so langer Zeit klingt alles, was wir drei machen, wie Yo La Tengo. | |
| Alles andere wäre vermutlich unmöglich. Trotzdem höre ich in der Musik des | |
| neuen Albums Sachen, die wir noch nie zuvor gemacht haben. | |
| Zum Beispiel? | |
| Teile des Songs „Brain Capers“ klingen für mich nicht wie etwas, was wir | |
| früher schon einmal gemacht haben. Das gilt auch für „Miles Away“. | |
| Ihre Auftritte zum jüdischen Lichterfest, Chanukka, haben eine lange | |
| Tradition und sind inzwischen legendär. Hat Ihr jüdischer Background | |
| Einfluss auf die Band? | |
| Nein. Wir haben die Chanukka-Shows vor über 20 Jahren als Mischung aus Witz | |
| und Herausforderung gestartet. Alle redeten damals über einzelne | |
| Weihnachtskonzerte, und irgendwann sagten wir: Warum spielen wir nicht | |
| jeden einzelnen Abend des Lichterfests? Acht aufeinanderfolge Shows, im | |
| gleichen Club, das klang lustig und anstrengend – und das machte es | |
| unwiderstehlich. Der jüdische Aspekt dabei ist nahezu bedeutungslos. | |
| Wichtiger Teil Ihres Chanukka-Konzepts sind die vielen Gäste, Teil Ihrer | |
| Konzerte viele Coversongs. Wie muss man sich den Auswahlprozess für beide | |
| vorstellen? | |
| Wenn wir nach 35 Jahren zum ersten Mal beschlossen hätten, einen Song zu | |
| covern, wäre es eine hitzige Debatte. Nach ein paar Hundert Covers, ist der | |
| Prozess sehr einfach: Einer schlägt was vor, wenn uns die Idee gefällt, | |
| spielen wir das live. Wenn es Spaß macht, vielleicht sogar öfter. Mit der | |
| Liste der Chanukka-Gäste ist es anders. Sie müssen zusammenpassen. Deshalb | |
| sprechen wir länger drüber. Weil wir keinen Song doppelt spielen, ist es | |
| wie ein einziges Konzert, verteilt über acht Abende. Die Gäste | |
| strukturieren diese Langstrecke. | |
| Yo La Tengo covern bis heute Punksongs. Sie selbst haben Anfang der 1980er | |
| die Linernotes zum Bad-Brains-Debütalbum verfasst. Was bedeutet Ihnen Punk | |
| heute? | |
| Wenn man unter Punk auch Musik von Talking Heads und [3][Television] | |
| subsumiert, ist es für mich immer noch etwas ganz Besonderes. Ich war ein | |
| Teenager, als ich diese Bands in den 1970ern entdeckte. Punk war die erste | |
| Musik, die mir etwas bedeutet hat, sie lief damals nicht im Radio. Schon | |
| deshalb war es meine Welt. Für mich als Jungen aus der Vorstadt war es | |
| kompliziert, für ein Abendkonzert nach Manhattan zu fahren. Die S-Bahnen | |
| fuhren nicht die ganze Nacht, ich musste oft vor Konzertende nach Hause. So | |
| verpasste ich auch die ersten Auftritte von Patti Smith, als sie nur von | |
| Lenny Kaye an der Gitarre und Richard Sohl am Klavier begleitet wurde. | |
| Darüber bin ich noch immer sauer. | |
| 9 Feb 2023 | |
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