# taz.de -- Berliner Orchester mit eigenem Festival: Bereit zum Schwärmen | |
> Bei seinen Kosmostagen geht es dem gleichermaßen an Jazz wie Neuer Musik | |
> interessierten Andromeda Mega Express Orchestra um die Schwarmästhetik. | |
Bild: Ästhetisch geordneter Schwarm: Andromeda Mega Express Orchestra | |
Es geht ja letztlich immer darum, einen Weg zu finden. Man mag sich das mal | |
im Kreise einer Pfadfindergruppe vorstellen: Um einen Weg zu finden, soll | |
man da auf einen Anführer vertrauen, der das Ziel schon kennen wird? Oder | |
soll die Gruppe einfach mal ausschwärmen? Und wem schließt man sich im | |
Zweifelsfall an, um nicht ganz vom Weg abzukommen oder zurückgelassen zu | |
werden, allein? | |
Und das jetzt alles als Musik. | |
Denn die Frage, wie Wege gefunden werden können, ist das besondere Anliegen | |
der diesjährigen Kosmostage vom Andromeda Mega Express Orchestra, das sein | |
Festival diesmal im Zeichen der Schwarmästhetik sieht. Wobei so ein | |
großformatiger Klangkörper wie das 2006 gegründete Andromeda Mega Express | |
Orchestra schon prinzipiell mit einem Schwarm verglichen werden kann | |
aufgrund der Vielzahl an Stimmen. Noch nicht ausgemacht aber ist, ob dieser | |
Schwarm nun brav geordnet einer Leitbiene hinterherschwärmt. Oder eben | |
andere Dynamiken ausprobiert werden. | |
Im Jazz, in dem es doch auch um Freiheiten geht, weiß man um das | |
Dialektische in dieser Sache. Dass zum Beispiel Gruppen, die sehr dem | |
freien Spiel verpflichtet waren, einigermaßen straff geleitet wurden. | |
Manche würden das sogar diktatorisch nennen, wie etwa Sun Ra sein Arkestra | |
oder Miles Davis seine Ensembles führte. | |
Das Andromeda Mega Express Orchestra aber nimmt sich schon mal die Freiheit | |
heraus, gar nicht Jazz sein zu wollen. Also nicht nur Jazz. Das Berliner | |
Ensemble will sich gar nicht entscheiden zwischen Jazz, Neuer Musik und | |
einem Irgendwie-doch-auch-Pop, die unterschiedlichsten Musiken dürfen bei | |
dem [1][vom Komponisten Daniel Glatzel geleiteten Orchester] mit ihren | |
Fingern schnippen, und das Experiment der vierten Ausgabe der Kosmostage | |
ist nun, dass Glatzel diesmal die Regie bei dem Festival abgegeben hat. | |
Wobei man sich Glatzel keineswegs als musikalischen Diktator vorstellen | |
sollte. Im Gegenteil: Dass es schon immer musikalische Verantwortung auch | |
ins Orchester gegeben habe, sagt Oliver Potratz. Er ist neben Johannes | |
Schleiermacher, Oliver Roth und Grégoire Simon einer der vier | |
künstlerischen Leiter des Festivals ist, das der Frage nachgehen wird: „Wie | |
organisiert sich das Orchester als Schwarm innerhalb eines Festivals über | |
Schwarmästhetik.“ | |
## Eine vergnügliche Mischkalkulation | |
Zu hören ist da bei dem dreitägigen, am Dienstag startenden Festival zum | |
Auftakt das komplette Orchester mit dem aktuellen Konzertprogramm, im | |
Abschlusskonzert widmet es sich in einer Komposition dem Thema Trance, und | |
dazwischen dürfen unterschiedlich besetzte Teilgruppen ausschwärmen und | |
sich etwa mit einer interaktiven Klanginstallation messen, während eine | |
andere dieser Schwarmzellen es mehr mit Schubert und tschechischer Folklore | |
hält. | |
Über mangelnde musikalische Abwechslung wird man sich jedenfalls nicht | |
beklagen können bei den Kosmostagen, die pandemiebedingt online zu sehen | |
und hören sind, in halbstündigen Konzerten, die vorab live aufgezeichnet | |
wurden. | |
Warum man dieses „live“ nicht gleich richtig live ins Netz stellen wollte, | |
hat vor allem mit dem Sound zu tun. Weil halt der Klang bei Livestreams | |
nicht wirklich gut sei, meint Potratz, und dass man so an dem noch feilen | |
könne, ohne aber am musikalischen Geschehen etwas zu ändern. Eingespielt | |
wurden die Konzerte im Radialsystem, und so darf dieser Text ein wenig vom | |
Weg abkommen und wenigstens die Perspektive wechseln, weil nun statt der | |
Vorschau ein Rückblick möglich ist. Einfach, weil der Berichterstatter bei | |
einem dieser Kosmostage-Konzertmodule dabei war (natürlich mit den | |
notwendigen Vorsichtsmaßnahmen, Test, Maske, Abstand …), bei denen die | |
MusikerInnen schlicht ihren Vorlieben folgen sollten. Das spielen, was sie | |
spielen wollen. | |
Bei der Cassiopeia Cloud genannten, mit zwei Trompeten, einer Posaune und | |
einem Cello besetzten Zelle um den Bassisten Potratz waren das in | |
unterschiedliche Balancen gebrachte Respekterweisungen von Neuer Musik mit | |
Kompositionen von Giacinto Scelsi und avancierter Jazz. Eine elegante | |
Neuerfindung von Cool Jazz war hier zu hören, von einer Teilgruppe eines | |
Orchesters, das eh nicht dazu neigt, die Contenance zu verlieren. | |
Das sich aber notfalls auch auf Hemdsärmligkeit versteht. Herz- und | |
ohrenergreifende alpenländlerische Trompetenechos gab es da bei der | |
Cassiopeia Cloud zwischendurch, eine launige Blasmusik-Gaudi, die auch | |
deswegen musikalisch bestens funktionierte, weil man nicht im | |
metaphorischen Bierzelt hocken blieb, sondern gleich einen gar nicht launig | |
gestimmten Komplexjazz hinterherschob. | |
Das alles war mindestens unterhaltsam und auch, in und mit den Kontrasten | |
spielend, luzide. Am Donnerstag um 20 Uhr ist dieses Festivalmodul zu | |
hören. | |
Und was die Wegfindungsfrage betrifft (die eh vor allem eine das Orchester | |
selbst betreffende Frage ist)? Von allem etwas wohl: strenge Vorgaben der | |
notierten Musik, improvisatorische Eigeninitiative, Fingerzeige, das | |
Kollektiv mit seinen vorab diskutierten und abgesprochenen Arrangements. | |
Letztlich also: eine vergnügliche, auch fordernde Mischkalkulation. So | |
funktioniert Schwarmästhetik. | |
26 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Mauch | |
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