# taz.de -- Globale Orchestermusik ohne Exotismen: Die Auflösung des Selbst | |
> Die Musik des Berliner Trickster Orchesters ist klanggewordene Utopie. | |
> Synthies, asiatische Flöten und westliche Violinen sind gleichberechtigt. | |
Bild: Leiten das „Trickster Orchester: Cymin Samawatie und Ketan Bhatti | |
Orchestermusik ist oft gefangen in einer toxischen Beziehung zwischen Form | |
und Inhalt. Instrumente unterliegen einer strengen Hierarchie. In der | |
klassischen Musik westlicher Gefilde dürfen die Violine oder das Klavier | |
solistisch glänzen, während die Posaune ein einsames Dasein als | |
begleitendes Element fristet. Manchmal muss sie ein halbes Stück lang | |
warten, bis sie endlich und dann oft nur ein einziges Mal erklingen darf – | |
etwa wenn ein dramatischer Höhepunkt ansteht. | |
Klanglich müssen sich alle Instrumente dabei stets einem Regime | |
unterordnen, dessen Name schon mehr nach Amtsstube als Kunst klingt: das | |
„diatonisch-chromatisch-enharmonische Tonsystem“ ist zuständig dafür, dass | |
die eigentlich aus unendlichen Klängen bestehenden Instrumente stets | |
innerhalb der zwölf Töne der Tonleiter bleiben – was Musik hervorbringt, | |
die ganz schön, aber auch recht standardisiert klingt und am Ende stets den | |
Pfad zurück nach Hause, zum Grundton, findet. Happy End. Alle klatschen. | |
Die Musik des Berliner Trickster Orchester ist dafür das perfekte | |
Gegenbeispiel. Auf dem neuen, gleichnamigen Debütalbum reiben sich Töne | |
aneinander, überlagern sich Rhythmen, verfremden sich Klänge oder [1][lösen | |
sich während des Spielens in ihre Einzelteile auf]. | |
Das Stück „Por se ssedaa“ beginnt mit einer getragenen Melodie, gespielt | |
von Streichinstrumenten, bevor sie von kurzen Tönen einer Koto, der | |
japanischen Zither, und mikrotonalem Gesang perforiert wird. | |
## Lässiger Jazz-Groove | |
Sie sind der Auftakt für einen lässigen Jazz-Groove aus vorwärtsstolpernden | |
Drums und Kontrabass, bevor die akribisch aufgebaute Klangarchitektur | |
implodiert und sich der Klang von Mohamad Fityans Ney, einer | |
zentralasiatischen Längsflöte, heranschleicht. | |
Dass es dabei immer wieder zu schönen Vewirrungen der Wahrnehmung kommt, | |
etwa wenn die Kawala, eine arabischen Rohrflöte, plötzlich wie eine Stimme | |
oder das Vibrafon wie ein Kontrabass klingt, zeigt, dass hier nicht nur die | |
übliche, von besagten Tonsystemen bestimmte Hierarchie der | |
Instrumentierung, sondern auch die der Spielweisen aufgebrochen werden. | |
Beim Trickster Orchester ist der Name Programm: [2][Traditionen werden | |
ausgetrickst] und Regeln werden gebrochen, scheinbar Unvereinbares wird | |
vereint: So erzeugt das Aufeinandertreffen unterschiedlich gestimmter | |
Instrumente wie die türkische Kanun mit der Violine oder Bratsche für mit | |
westlicher Musik geschulte Ohren harmonische Reibungen. | |
Unterschiedliche Tonsysteme werden hier nicht einem einzigen untergeordnet, | |
sondern stehen nebeneinander. Doch nicht nur Klänge, auch das Perkussive | |
wird aus der üblichen Rolle der schieren Begleitung befreit, zu hören etwa | |
beim von Elektronik zerhackten Schlagzeug-Solo in „Kords Kontinuum“. | |
## Ohne Metaphern oder Exotismen | |
Dass hier ein Orchester wie eine Jazz-Band denkt, ist vor allem dem Stück | |
„Modara“ anzuhören, mit seiner wunderbaren Verschaltung elektronischer | |
Sounds mit Jazz-Mustern und spätromantischen Streicherarrangements ein | |
Highlight. Es kann exemplarisch stehen für die transtraditionelle Vision | |
des 23-köpfigen Orchesters, das von Cymin Samawatie und Ketan Bhatti | |
geleitet wird. | |
Samawatie, die hier auf Persisch singt und wie Bhatti (Schlagzeug) aktiver | |
Teil des Ensembles ist, bezieht sich in ihrem Text auf den Dichter | |
Jalaluddin Rumi, der Modara betrachtet als „Ort der intensiven Begegnung | |
und der Auflösung des Selbst in etwas völlig Neues“. | |
Es klingt geradezu utopisch: [3][das Partikulare erlauben], ohne das | |
Universale ganz aufzulösen. Doch die größte Stärke der auf dem renommierten | |
Label ECM erschienenen Musik liegt nicht in ihrem Potenzial für blumige | |
Feuilleton-Allegorien, sondern darin, neue Klangwelten zu schaffen, die | |
erst gar keine Metaphern oder Exotismen zulassen. | |
23 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
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