# taz.de -- Porträt von Bandleaderin Cymin Samawatie: Neue musikalische Freihe… | |
> Die Berlinerin Cymin Samawatie und ihre Musik zwischen Jazz und E-Musik | |
> verfolgen einen transtraditionellen Ansatz. Zu erleben ist sie in | |
> Heidelberg. | |
Bild: Geistesgröße des Jazz: Cymin Samawatie | |
Die Figur des Tricksters genießt keinen sonderlich guten Ruf. Ob nun als | |
mythologische Gestalt wie Prometheus, Hermes und die nordische Loki oder | |
doch Erdling wie TV-Talkshowhost Jan Böhmermann: Sympathie-Bekundungen und | |
Abscheu halten sich im besten Falle die Waage. | |
Dabei sind Trickster verlässliche Quellen für Erneuerung und Fortschritt. | |
[1][Prometheus brachte das Feuer], und Loki kann sich neben | |
Milliarden-Gewinnen für den Comic-Riesen Marvel auch die Entstehung der | |
neuen Welt auf die Fahne schreiben. | |
Dass das 2013 in Berlin gegründete Trickster Orchestra einen Kulturwandel | |
anzettelt, ist da nur folgerichtig. Das Trickster Orchestra als Ensemble | |
der Avantgarde-Musik umfasst etwa 20 Personen und spielt eher E- als | |
U-Musik, ist bürgerlich statt unkonformistisch und in den Konzerthäusern | |
zuhause und nicht in den revolutionären Zellen. | |
## Improvisieren auf dem schmalen Grat | |
Geleitet wird es von der 1976 in Braunschweig geborenen Cymin Samawatie | |
zusammen mit Ketan Bhatti. Bhatti ist renommierter Komponist, Schlagzeuger | |
und Musikproduzent, meist für Neue und Klassische Musik. Samawatie | |
studierte in Hannover Klavier, Gesang und Schlagwerk, bevor sie fürs | |
Jazzstudium nach Berlin zog. Heute ist sie eine profilierte Akteurin auf | |
dem schmalen Grat zwischen Klassik und Jazz. | |
Diese musikalischen Milieus (Klassik, Neue Musik, Jazz) bilden, zumindest | |
in Mitteleuropa, nicht die Speerspitze der Innovation und der Diversität. | |
Noch immer versucht man sich an einem vielfältigeren Kanon. Bei dem Versuch | |
stellt man Gamelan-Orchester und Combos wie die Sahel-Band Tinariwen zwar | |
heute immer häufiger auf die Bühnen; sie bleiben aber stets das Besondere, | |
und ihre Klänge verschmelzen nicht mit dem Hauptprogramm. Sie bleiben außen | |
vor. | |
Das Trickster Orchestra setzt dort nun seit zehn Jahren an und präsentiert | |
zwar auch nicht-europäische Sounds, Instrumente und Musiker*innen, doch | |
weder werden sie ausgestellt, noch ordnet man sie dem hiesigen Kulturkanon | |
unter. | |
## Komplexes Soundgemisch | |
Ganz im Gegenteil: Wenn die nicht-europäischen Instrumente des Ensembles, | |
[2][etwa die türkisch-persische Langflöte Nay,] die chinesische Mundorgel | |
Sheng und die japanische Brettzither Koto, in Kontakt mit „klassischen“ | |
europäischen Instrumenten wie dem Cello und der Posaune treten, dann | |
„integrieren“ sie sich nicht etwa in die Kompositionen, sondern erschaffen | |
gemeinsam ein komplexes Soundgemisch. | |
Die so entstehende Musik ist weit entfernt davon, europäisch oder asiatisch | |
zu klingen. Ihr kommt ein gewisser Universalismus zu. Über allem schwebt | |
die Stimme Samawaties, die spielerisch zwischen experimentellem Getriller, | |
einfühlsamem Canto und folkloristischer Weise oszilliert. Ihre Texte trägt | |
sie stets auf Farsi vor, der Sprache ihrer aus Persien stammenden Eltern. | |
Schnell drängt sich der, in Deutschland vor allen Dingen durch das 2012 | |
erschienene, gleichnamige Buch des Kulturwissenschaftlers Mark Terkessidis, | |
popularisierte Begriff Interkultur auf: Statt um Integration von „fremden“ | |
Klängen geht es hier um die gleichberechtigte Anerkennung unterschiedlicher | |
Kulturen. Samawatie indes verfolgt für das Trickster Orchestra andere | |
Ansätze: Trans-traditionalismus und eine Idee der postmigrantischen | |
Gesellschaft. | |
## Erfahrungen von Austausch und Migration | |
„Beide Begriffe zielen darauf ab, uns nicht nur in unserer Andersartigkeit, | |
sondern unserer Ähnlichkeit und Verflochtenheit miteinander zu verstehen. | |
Die beiden Begriffe verstehen Kultur und Gesellschaft von vornherein als | |
transkulturell, heterogen und eminent durch Erfahrungen von Migration und | |
Austausch geprägt“, erklärt sie im Interview. | |
Anhand der Instrumente des Trickster Orchestras lassen sich | |
Migrationsgeschichten und Kulturaustausch exemplarisch zeigen: Die | |
japanische Koto, heute Nationalinstrument des fernöstlichen Inselstaats, | |
ist ein Produkt eines chinesisch-japanischen Austauschs. Und selbst | |
vermeintlich europäische Ins-trumente sind nur vordergründig klar einem | |
Kulturraum zuzuordnen: Das Cello etwa, – es tauchte im 16. Jahrhundert | |
zuerst in Italien auf -, ist eine Weiterentwicklung der spanischen Gambe, | |
die wiederum in einer Ahnenreihe mit der maurisch-arabischen Rabāb steht. | |
## Hybridisierende Weiterentwicklung | |
Bei der (Weiter-)Entwicklung dieser Instrumente ging es nie um die Betonung | |
von Fremdheit, sondern stets um eine hybridisierende Progression von | |
Kultur. Diese Gedanken wird Samawatie bei der Diskursveranstaltung „Warum | |
transtraditionelle Musik?“ erklären. Es ist nicht ihr einziger Auftritt bei | |
der Jubiläumsausgabe des Enjoy Jazz-Festivals in der Metropolregion | |
Mannheim/Heidelberg. Am 2. Oktober eröffnet sie mit ihrem frisch | |
gegründeten Sextett die 25. Festival-Ausgabe. | |
„2022 wurde mir der Jazzpreis Berlin von Berliner Senat und dem | |
öffentlich-rechtlichen Sender rbb zuerkannt. Ich habe diesen Anlass | |
genutzt, um etwas Neues zu wagen und meiner Leidenschaft als Pianistin Raum | |
zu geben.“ Ihr Sextett setzte sie daraufhin aus den Mitgliedern des | |
Trickster Orchestras zusammen. | |
„Diese Besetzung liegt mir am Herzen und ich freue mich auf die gemeinsame | |
Reise, bei der ich noch nicht weiß, wo genau sie uns hinführen wird. Hier | |
hat mich vor allem bewegt, noch einmal in eine neue Dimension musikalischer | |
Freiheit zu gelangen.“ | |
Das Konzert werde nahezu frei improvisiert. So sollen die warmen Timbres | |
von Bläsern auf die urbanen Electronics und die mitreißenden Beats und | |
Texturen stoßen. Zwar bevorzuge sie auch für dieses Projekt den Begriff der | |
transtraditionellen Musik, dennoch könne sie auch dem Jazz etwas | |
abgewinnen: „Jazztradition ist immer schon politisch, sie nimmt | |
existierende Traditionen auf und formt daraus eine eigene Ästhetik, sie | |
hatte immer mit Migration und der Kulturpraxis von Minderheiten zu tun.“ | |
Jazz ist jedoch nicht im Vakuum entstanden, es braucht starke | |
Akteur*innen – wie die große Musikerin und Kulturaktivistin Lil Hardin | |
Armstrong. Cymin Samawatie ist im Inbegriff eine weitere Größe zu werden. | |
28 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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