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# taz.de -- Debütroman von Sharon Dodua Otoo: Was der Türklopfer erzählt
> Kann ein Roman davon träumen, dass alle menschlichen Erfahrungen zählen?
> „Adas Raum“, das neue Buch von Sharon Dodua Otoo, tut es.
Bild: In den Londoner Episoden des Romans ist ein Türklopfer die Erzählinstanz
Ada heißt durchgehend die Frau. Wilhelm heißt der Mann, der als ihr
Gegenüber und Gegenspieler immer wieder anders auftritt, allerdings Wilhelm
in sprachlichen Variationen. Guilherme, portugiesisch also, als er 1459 in
Totope zusammen mit anderen Glücksrittern und Kolonisatoren die
afrikanische Westküste betritt. William, englisch, als er 1848 überraschend
aus Paris nach London zurückkehrt und seine Frau bei ihrer Affäre
überrascht. Und Wilhelm schließlich, deutsch, als der Roman in seiner
dunkelsten Episode uns in die Sonderbaracke 37 des KZ Mittelbau-Dora ins
Bordell für die Häftlinge führt.
Und noch einmal Wilhelm heißt der Mann, wenn die zweite Hälfte des Buchs in
die unmittelbare Vergangenheit Berlins springt. So historisch ausholend der
Roman in der ersten Hälfte ist, so gegenwärtig ist er in der zweiten. Es
gibt jetzt den Brexit. Es gibt Boris Johnson. Und Ada sucht hochschwanger
in Berlin eine Wohnung. Die Erzählinstanz – es ist in dieser Episode
tatsächlich ein Reisepass, der erzählt – kommentiert: „In Ghana wurde Ada
schleichend zur Frau und bekam es kaum mit. In Deutschland wurde Ada
schlagartig zur Schwarzen und spürte es sofort.“
In vielen Sprüngen, „Schleifen“ nennt es der Roman, geht die Handlung durch
die Orte, Zeiten und Situationen. Als Leser*in versteht man nicht immer
alles sofort, doch man kommt zügig hinein und vertraut schnell darauf, dass
es offenbar einen Plan gibt, der die einzelnen Episoden zusammenhält. Zur
Sicherheit kann man auch immer zur Seite mit den Kapitelüberschriften
zurückblättern, die den symmetrischen Aufbau des Romans wie auf einem
Bauplan zeigt.
In den einzelnen Begegnungen von Ada und dem jeweiligen Wilhelm wechselt
jeweils ein Armband den Besitzer. Am Schluss wird das Schmuckstück nach
vielen Wendungen im Katalog einer Ausstellung über „Vorkoloniales
Westafrika“ landen, mit der Bildbeschreibung: „Fruchtbarkeitsperlen.
Fünfzehntes Jahrhundert, Westafrika. Privatbesitz.“
Gescheiterte Begegnungen
Wie ist das Armband in diese Ausstellung gekommen? Darum geht es in diesem
Roman auf einer seiner vielen Ebenen: um die Bewegung dieses Perlenarmbands
durch die Weltgeschichte, von Westafrika über England nach Berlin. Es geht
aber auch um Frauen (und Männer). Um Begegnungen überhaupt und wie sie oft
scheitern (und manchmal glücken). Es geht um das Thema des Kindergebärens,
zu Beginn verliert die Ada von 1495 ihr zweites Baby, wie sie ihr erstes
auch schon verloren hat, am Schluss wird die Ada von 2019 ihr Baby
bekommen. Und es geht um ein – wie soll man es nennen? – unheroisches, aus
der Zentralperspektive der einen Geschichte herausfallendes Erzählen.
Die Erzählinstanz kann in diesem Roman ganz unterschiedliche Formen
annehmen. In Totope ist es ein Reisigbesen, der erzählt. In London ein
schwerer Türklopfer an der hochherrschaftlichen Haustür der Adresse
Battersea Road 37 in Löwenform. In Berlin der Reisepass. Und zwischendurch
schlüpft das Erzählen auch einmal in eine Brise, die als Windhauch die
Szenerie durchweht.
Wer mag, kann Anknüpfungspunkte an Virginia Woolf entdecken. So frei, wie
die britische Klassikerin in ihrem wildesten Roman „Orlando“ seine
Hauptfigur durch die Zeitläufte, Identitäten und Gesellschaftsformen
springen lässt, so ungebunden ist bei Otoo die Erzählinstanz. Was im
Roman selbst seine Ambivalenzen hat. Souverän kann die Erzählinstanz
überall dabei sein. Doch da sie immer nur in vorhandene Gegenstände
schlüpfen kann und (noch) keine eigene Gestalt hat, ist sie auch hilflos
und kann nicht mehr tun, als das, was geschieht, zu beobachten.
So kann man sich das alles zusammenreimen. Man muss es erst einmal aber
auch nicht. Man kann sich zunächst auch dem Erzählen überlassen, der Brise,
die die Episoden zusammenhält.
Kommentare zum Weltgeschehen
Bei den Szenen um das gestorbene Baby findet [1][Sharon Dodua Otoo]
deutliche Bilder der Trauer und emotionalen Bedrängnis. Mit wenigen
Strichen kann sie den sozialen Alltag in Totope, das familiäre
Eingebundensein, nein, nicht beschreiben, sondern eher selbstverständlich
aufscheinen lassen. Interessant auch, wie sie diesen Guilherme Fernandes
Zarco beschreibt. Gehetzt, erschöpft, mit verbrannter Haut landet er an der
Küste des heutigen Ghana. Einer der vielen Kommentare zum Weltgeschehen,
die sich aus diesem Roman herauslesen lassen: Es waren abgerissene
Gestalten, die den europäischen Kolonialismus begründeten.
In den Londoner Episoden des 19. Jahrhunderts macht Otoo die
Klassenunterschiede schnell deutlich. Die Herrschaften tragen „mit Stolz
ihre makellosen Westen“, deren Baumwolle, wie sie wissen, „von unfreien
Händen geerntet wurde“. Gleichzeitig geht es auf den Straßen von London ums
nackte Überleben bis hin zum Hungertod.
Die 1945 im KZ spielenden Szenen sind sicherlich die gewagtesten, und – da
Otoo sich zutraut, die Schrecken im Vorübergehen zu erzählen – auch
fragwürdigsten des Romans. Wenn SS-Offiziere „wie herbeigeflucht“ plötzli…
im Raum stehen oder wenn ein polnischer Gefangener seine 15 Minuten, die er
bei der wie eine Sklavin gehaltenen Ada hat, für eine kleine menschliche
Geste nutzt, dann sind aber auch das literarisch eindringliche Bilder.
Im zweiten Teil ändert sich der Gestus des Erzählens grundlegend. Im Berlin
des Jahres 2019 kommt es zwischen der zeitgenössischen Ada und ihrer
Halbschwester Elle zu längeren Dialogen, die Schilderungen erhalten eine
alltäglichere Farbe, die Figuren haben mehr Raum, von dem zu erzählen, was
sie denken und erlebt haben. Aktuelle Kommentare zu alltäglichen Rassismen,
Raubkunst, Zuschreibungen und Ausgrenzungen spielen deutlich hinein.
Spöttische Untertöne
Die Berlin-Beschreibungen rund um Ada, Elle und „Cash“, dem werdenden
Vater, aus der Perspektive junger schwarzer Figuren also, könnten auch
einem realistischen Gegenwartsroman entstammen. Mit immer wieder schön
spöttischen Untertönen, etwa wenn die Schreibweisen eines einzelnen
Familiennamens auf einem Charlottenburger Klingelschild diverser wirken als
die Menschen, die darin wohnen: „Mayer“, „Mayr“, „Meyer“, „Maier�…
„Meier“.
Sharon Dodua Otoo wurde als Autorin einer größeren Öffentlichkeit bekannt,
[2][als sie 2016 mit der Erzählung „Herr Gröttrup setzt sich hin“ den
Bachmannpreis in Klagenfurt gewann]. Als sie im vergangenen Sommer [3][die
traditionelle Bachmann-Eröffnungsrede] hielt, nutzte sie das, um dazu
einzuladen, gemeinsam an der gemeinsamen deutschen Sprache und Literatur zu
arbeiten.
Als Schwarze Autorin, so sagte sie darin, werde sie unweigerlich zur
Repräsentantin einer Community. Und sie sagte weiter, je mehr und je
unterschiedlichere Schwarze Schreibansätze es dabei gebe, desto leichter
werde den Einzelnen diese Repräsentation.
In dem Roman „Adas Raum“ zeigt sie sich endgültig als Erzählerin, die vie…
sprachliche Register ziehen kann und, anstatt ihre Figuren identitär
festzuschreiben, ein kompliziertes Mosaik menschlicher Erfahrungen
kunstvoll zusammenhält. Schön auch, wie man bei allen Schrecken und
deprimierenden Erfahrungen dennoch oft etwas Zugewandtes und Freundliches
aus dem Buch herauslesen kann. Dabei ist „Adas Raum“ alles andere als eine
Programmschrift. Sätze wie „Ich kann mir immer noch nichts Schöneres
vorstellen, als irgendwann eine eigene Geschichte haben zu dürfen“ gibt es,
doch beeindrucken kann der Roman vor allem durch seine dramaturgisch
elaborierten Ironien.
Nebenfiguren im Fokus
So achtet man beim Lesen bald darauf, wie kunstvoll der erzählerische Fokus
in vielen Episoden von den möglichen Hauptfiguren auf die Nebenfiguren (die
damit zu Hauptfiguren werden) wechselt. In Totope wird eben nicht der
Kolonialismus zentral, sondern der Versuch einer trauernden Mutter,
Abschied von ihrem toten Kind zu nehmen. In London taucht der Romancier
Charles Dickens auf, doch erzählt wird die Geschichte der Magd Lizzie,
deren Eltern in den irischen Hungerkatastrophen des 19. Jahrhunderts
elendiglich umgekommen sind und die sich mit ihrem Bruder nur mühsam nach
London retten konnte. Und das zentrale Motiv im Berlin der Gegenwart ist
eben nicht die politische Großwetterlage, sondern die Wohnungssuche für
eine junge schwangere Schwarze Frau.
Wer erzählt? Vom wem wird erzählt? Wessen Erfahrungen werden weitergegeben?
Ohne dass es direkt thematisiert wird, ist dies auch ein Roman, der eine
Sehnsucht danach hat, dass alle menschlichen Erfahrungen gleich viel
zählen. Und zugleich drückt er aus, wie viel Geschichte das Lebensgepäck
der Lebenden beschwert und dass die verunglückten Begegnungen im Totope des
15. Jahrhunderts noch in den aktuellen alltäglichen Rassismen des heutigen
Berlins mitschwingen. Einmal heißt es in dem Roman, „dass alle Wesen –
vergangene, gegenwärtige und zukünftige – in Verbindung miteinander sind“
(was so aus dem Kontext gerissen überdeutlicher erscheint, als es sich im
Roman liest).
„Erzähl mir alles, was es auf der Welt gibt“, lässt Virginia Woolf einmal
ihren Orlando unwillkürlich denken, als er einen Dichter sieht. Sharon
Dodua Otoo scheint sich in „Adas Raum“ an dieses Motto gehalten zu haben.
Reisigbesen, Türklopfer und Reisepass sind übrigens spätestens auf den
zweiten Blick gute Gegenstände, um Räume des Erzählens zu definieren. Der
Reisigbesen reinigt und umgrenzt damit den sozialen Raum zwischen den
Hütten eines Dorfes. Der Türklopfer steht dafür, wer in herrschaftliche
Häuser Einlass begehrt (und wer eingelassen wird). Und der Pass ermöglicht
freies Reisen, nicht aber automatisch, dass seine Besitzerin dort, wo sie
landet, auch ein Zimmer für sich findet.
23 Feb 2021
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## AUTOREN
Dirk Knipphals
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