| # taz.de -- Debütroman von Brandon Taylor: Unter dem Mikroskop | |
| > Es sind die Unsicherheiten, die wahrgenommen werden wollen. Brandon | |
| > Taylor erzählt von einer schwierigen Ankunft in der weißen Mittelklasse. | |
| Bild: Gesehen werden wollen: US-Autor BrandonTaylor | |
| Einen entscheidenden Satz versteckt Brandon Taylor in seinem Roman „Real | |
| Life“ ein bisschen. „Eigentlich war er gar nicht auf der Suche, aber er | |
| wollte wahrgenommen werden wie jeder andere auch, wollte gesehen werden.“ | |
| Der Satz fällt im Zusammenhang mit einer schwulen Dating-App. Wallace, die | |
| Figur, an der der Roman nah entlang erzählt ist, löscht die App wieder, | |
| weil sein Postfach ständig leer bleibt. | |
| Über ihren unmittelbaren Kontext geht dieses Bild natürlich hinaus. Das | |
| Drama, gesehen werden zu wollen und nicht immer gesehen zu werden, | |
| durchzieht den ganzen Roman. Und selbstverständlich ist dieser Wallace auf | |
| der Suche. Er traut sich zunächst nur noch nicht recht. | |
| Wallace ist Doktorand der Biochemie an einer nicht genau verorteten | |
| Universität im Mittleren Westen der USA. Die personale Erzählinstanz, die | |
| das Innenleben von Wallace ausleuchtet, beschreibt es so: „Ihr Jahrgang war | |
| so klein wie schon seit Langem nicht mehr und der erste mit einem schwarzen | |
| Doktoranden seit über drei Jahrzehnten.“ | |
| Der schwarze Doktorand ist Wallace. Er forscht über Nematoden, kleine | |
| Fadenwürmchen, die durchsichtig sind. „Diese Eigenschaft macht sie zum | |
| idealen Modellorganismus fürs Mikroskopieren. Weitere Merkmale sind die | |
| einfache genetische Manipulierbarkeit, das überschaubar kleine Genom, eine | |
| kurze Generationszeit und eine unkomplizierte Handhabung.“ | |
| Aber Wallace selbst ist natürlich nicht durchsichtig, auch nicht sich | |
| selbst, und nichts in seinem Leben ist unkompliziert. Es ist die Phase mit | |
| Mitte Zwanzig, in der nicht mehr alles möglich, aber auch noch nichts | |
| endgültig festgelegt ist; und manchmal fühlt sich alles falsch an. | |
| ## Dramen des Alltags | |
| Der Roman folgt Wallace ein Wochenende im Spätsommer lang. Es gibt | |
| Reibereien und Liebeleien innerhalb der Clique, der Wallace angehört, | |
| Alltagsdramen, Selbstzweifel, Erinnerungen, ein Tennisspiel und Probleme | |
| mit verunreinigten Arbeitsproben. Am Ende des Wochenendes wird zwar nichts | |
| endgültig geklärt sein, aber wir wurden durch seine Gedanken, seine | |
| Wahrnehmungen und sein Begehren geführt und sind Wallace ein Stück weit | |
| nähergekommen. | |
| Wenn man so abständig auf diesen Roman schaut wie Wallace auf seine | |
| Nematoden, könnte man ihn fast für kalkuliert und in Zeiten von Black Lifes | |
| Matter beinahe für bestellt und geliefert halten. Es ist ein Debüt, Brandon | |
| Taylor ist noch jung, er wurde 1989 geboren. In den USA hat der Roman viel | |
| Aufmerksamkeit bekommen. Beim [1][Booker-Preis des vergangenen Jahres] kam | |
| er auf die Shortlist, und nun wurde er so zügig wie sorgfältig ins Deutsche | |
| übersetzt und in einem großen Publikumsverlag publiziert. | |
| In einem Interview erzählte Brandon Taylor, dass er Campus-Romane liebt, | |
| sich selbst als schwuler schwarzer Mann aber in keinem wiederfand: „Also | |
| sagte ich mir, ich imaginiere mich selbst ins Zentrum eines Campus hinein.“ | |
| „Real Life“ wird so auch von dem Willen getragen, dass so eine | |
| Außenseitergeschichte wie die von Wallace unbedingt zählt – er ist nicht | |
| nur schwul und schwarz, sondern stammt auch noch aus einem prekären Umfeld. | |
| ## Bis in die hintersten Ecken | |
| Doch wenn man näher an den Roman herangeht – und er hat die erzählerische | |
| Kraft, einen an sich heranzuziehen –, verschwimmt das Bild des Kalkulierten | |
| schnell wieder. An seine Stelle tritt der Eindruck von etwas souverän und | |
| bis zur Verletzlichkeit Gewagtem. Der Roman leuchtet seine Hauptfigur bis | |
| in die hintersten Ecken seines Bewusstseins aus und stellt ihn nackt und in | |
| allen Ambivalenzen vor einen. Dabei geht es gar nicht um Repräsentation, | |
| Wallace ist kein Stellvertreter; eingefangen, teilweise mikroskopiert wird | |
| vielmehr seine spezifische Erfahrung. | |
| Dabei verschwimmt auch der Eindruck, dass Wallace eine eindeutige, klar zu | |
| erzählende Geschichte haben könnte. Vielmehr weiß er selbst nicht so recht, | |
| was für eine Geschichte er hat. Und Brandon Taylor ruft unterschiedliche | |
| narrative Konzepte auf. Zwischen Campus-Roman, Emanzipationsgeschichte auf | |
| der Kippe und Geschichte einer Quarterlife-Crisis changiert dieser Roman. | |
| Wallace ist in vielem auch gar keine Identifikationsfigur. Auf einer Party | |
| unter Freunden löst er einen Eklat aus. Man ist unbedingt bei ihm, wenn er | |
| sich an die erste Party innerhalb dieser Gruppe liberaler, international | |
| zusammengewürfelter Mittzwanziger erinnert. Mit in einer schönen Schüssel | |
| arrangierten, sorgfältig zubereiteten Fleischklöschen kam er an – die in | |
| der Gruppe sich bewusst und vegetarisch ernährenden | |
| Mittelklasse-Sprösslingen keine Beachtung fanden. Ein genaues Bild für die | |
| Wirksamkeit feiner Unterschiede auch unter vermeintlich coolen und | |
| entspannten jungen Leuten. | |
| ## Ruiniertes Abendessen | |
| Man ist auch bei Wallace, wenn er sich, so angenommen er auch wird, | |
| aufgrund von Witzchen, kleiner rassistischer Fauxpas und Angestrengtheiten | |
| innerhalb der Gruppe dann eben doch wie der eine Schwarze, der eine sonst | |
| weiße Umgebung durch „Buntheit“ bereichert, fühlt. Doch dann begeht er | |
| einen Freundschaftsverrat. Während dessen Freund Cole daneben sitzt, | |
| erwähnt er, dass er Vincent auf der Dating-App gesehen hat. | |
| Das ist ein durchaus aggressiver Akt, zwischen den beiden war gerade | |
| strittig, ob sie eine offene Beziehung oder exklusive Beziehung führen. Die | |
| Erzählinstanz kommentiert trocken: „Das Abendessen ist ruiniert, so viel | |
| ist klar.“ | |
| Am allgemeinsten lässt sich „Real Life“ vielleicht als Geschichte einer | |
| fragwürdigen Ankunft bezeichnen. Seiner Herkunft aus der Armut in den | |
| Südstaaten der USA ist Wallace entkommen, durch seinen Aufbruch in den | |
| Mittleren Westen und durch ein Stipendium. Aber auch wenn er manchen | |
| Menschen nahe ist, Emma, Cole, Brigit, kann er sich in seinem Leben nicht | |
| sicher fühlen. | |
| ## Vergangenheit hinter sich lassen | |
| Auch in dem Labor, in dem er forscht, gibt es Probleme. Es gibt das | |
| Dilemma, dass er sich als Stipendiat besonders beweisen muss, dass sein | |
| Arbeitseinsatz von seinen Kommilitonen aber auch als Angriff auf sie | |
| gewertet wird. Und nach einem nicht restlos aufgeklärten Konflikt mir einer | |
| Mitstudentin fragt seine Professorin Wallace: „Willst du hier sein? Oder | |
| ist es nicht eher so … dass du einfach nicht woanders sein willst.“ | |
| Kann Wallace, nachdem er seine Vergangenheit hinter sich gelassen hat, von | |
| sich aus nicht ankommen in seinem neuen Leben, oder lässt man ihn dann | |
| letztlich doch nicht ankommen? Diese Frage flirrt durch die Szenen und | |
| bleibt offen. | |
| Eine Liebesgeschichte gibt es auch, und auch sie bleibt unbestimmt. Mit | |
| Miller, der bislang heterosexuell orientiert ist und an Wallace seine | |
| homoerotische Seite entdeckt, entwickelt sich eine Affäre. Einer der | |
| dichtesten Momente des Romans entsteht dann, als Wallace diesem Miller in | |
| einem Moment intimer Vertrautheit von seiner Vergangenheit inklusive des | |
| Traumas eines Missbrauchs, als er noch ein Kind war, erzählt. | |
| ## Etwas Drängendes, Gepresstes | |
| Dieses fünfte Kapitel fällt aus dem Zusammenhang des Romans heraus, es ist | |
| stilistisch ganz anders geschrieben, etwas Drängendes, Gepresstes liegt | |
| hier in der Erzählerstimme, der Druck und auch die Anstrengung des | |
| Erzählens ist deutlich spürbar. Wallace kann sich dieses Aspekts seiner | |
| Vergangenheit gleichsam nur mit geschlossenen Augen zuwenden. | |
| Mindestens ebenso interessant ist aber auch, was nach diesem Bericht | |
| geschieht. Nach üblichen Dramaturgien wäre es jetzt an der Zeit für eine | |
| besondere Zugewandtheit oder auch für einen kathartischen Moment, in dem | |
| sich die traumatische Anspannung löst. Nicht so bei Brandon Taylor. Weder | |
| Miller noch Wallace wissen hinterher, wie sie genau mit der Erzählung über | |
| die Vergangenheit umgehen sollen. Überhaupt wissen sie bis zum Schluss | |
| nicht, wie sie mit ihrer Affäre umgehen sollen. | |
| Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, was Brandon Taylor interessiert: | |
| jedenfalls keine identitäre Festlegung. Er treibt in diesem Roman die | |
| Szenen bis zu dem Punkt voran, an dem sich etwas Endgültiges vollziehen | |
| könnte. Eine Ablehnung. Ein Scheitern. Das Aufbrechen eines Traumas. Oder | |
| auch eine endgültig bewusst gewordene Freundschaft. Oder ein Neuanfang. | |
| Oder eine Liebe. Aber bevor sich dieses Endgültige vollzieht, bricht | |
| Brandon Taylor die Entwicklung jeweils ab. | |
| ## Die Klassiker lesen | |
| Die losen Enden des Lebens von Wallace bleiben nebeneinander liegen. Es | |
| gibt in ihm den Wunsch, das titelgebende echte Leben jenseits des | |
| Universitätscampus kennenzulernen, aber am Schluss des Buches schwant ihm, | |
| dass dieses echte Leben aus Ambivalenzen besteht. | |
| Wallace ist nicht nur durch seine Hautfarbe, seine sexuelle Orientierung | |
| und seine Herkunft charakterisiert, sondern auch dadurch, dass er Klassiker | |
| liest. Virginia Woolf, Proust, Tolstoi werden ausdrücklich erwähnt – die | |
| Bewusstseinsforscher (und was man am berühmten | |
| [2][Creative-Writing-Programm] von Ohio, das Taylor absolvierte, so | |
| studiert). Das wird zwar in dem Roman nicht sehr tief ausgeführt, aber man | |
| ertappt sich dann eben doch dabei, beim Lesen einmal grundsätzlich darüber | |
| nachzudenken, was Literatur in den aktuellen identitätspolitischen | |
| Diskursen leisten kann. | |
| Ohne direkt darauf einzugehen, macht dieser Roman sehr klar: | |
| Identitätspolitische Thesen bloß zu illustrieren reicht nicht aus, das wäre | |
| literarisch defizitär. Vielmehr sollte Literatur auf eine basalere Ebene | |
| gelangen, nicht nur Anschauungsmaterial sein, sondern beglaubigen, wie | |
| kompliziert, verletzlich und jeweils spezifisch menschliche Bewusstseine | |
| sein können. So wie es dieser Roman tut. Was er an seiner Hauptfigur | |
| Wallace zählen lässt und was an ihm wahrgenommen werden will, sind gerade | |
| seine Unsicherheiten, sein Durcheinander, sein Unfertigsein. | |
| 30 May 2021 | |
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| Dirk Knipphals | |
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