# taz.de -- Roman über schwarze Frauen: Emotionale Leerstellen | |
> „Mädchen, Frau etc.“: Bernardine Evaristo schreibt einen Roman über | |
> schwarze Frauen in Großbritannien, quer durch die kulturellen Szenen. | |
Bild: Ein Aufstieg ins Establishment ist möglich, aber die Ausgrenzungen sind … | |
Man liest über: eine schicke Theaterpremiere im Londoner National Theatre, | |
Alleinerziehende in kleinen Sozialwohnungen, Lesben-Kommunen in den USA, | |
auswandernde Paare aus Nigeria, das Leben von sich in die Karibik | |
zurückgezogenen Seniorinnen, Sozialaufsteigerinnen, Lehrerinnen, eine | |
Trans*Person und manche Figur mehr. | |
Der Roman „Mädchen, Frau etc.“, für den [1][Bernardine Evaristo] 2019 den | |
Booker-Preis gewann (gemeinsam mit [2][Margaret Atwood]), verfolgt die | |
Lebensläufe von zwölf britischen Frauen, die meisten von ihnen schwarz, | |
viele von ihnen lesbisch. Das Buch ist eine Bestandsaufnahme der Fülle, des | |
Selbstbewusstseins und vor allem der Heterogenität der afrobritischen | |
Community, quer durch die kulturellen Szenen und sozialen Schichten, | |
Lebensalter und Lebensentwürfe. | |
Das literarische Ereignis des Romans ist aber seine Sprache, die flüssig zu | |
lesen, aber schwer zu beschreiben ist. Die wichtigsten Merkmale: Bernardine | |
Evaristo setzt keine Punkte, stattdessen lässt sie nach jeder kleinen Zäsur | |
die Zeilen enden. Das Ergebnis ist eine bewegliche, oft gewissermaßen | |
atmende Sprache, mit der die Autorin manchen Effekt erzeugt. | |
## Emotionale Unachtsamkeit | |
Nur ein Beispiel. Nachdem ihre Eltern der 16-jährigen Penelope eröffnet | |
haben, dass sie adoptiert ist, sitzt die Familie am Essenstisch. Die Eltern | |
„verzehrten die Lammkoteletts, die Minzkartoffeln und die Buttererbsen, die | |
es samstags immer zu Mittag gab | |
reichten einander die Soße | |
reichten einander das Pfeffer | |
reichten einander das Salz“ | |
Mehr als diese Zeilenbrüche braucht es nicht, um die emotionale | |
Unachtsamkeit der Eltern auszudrücken (und dass Penelope es gar nicht | |
fassen kann). „Fusion Fiction“ nennt Evaristo diesen Stil. Eine Mischung | |
aus Beschreibungsprosa, dem Drama ständiger Selbstreflexion und der Lyrik | |
des Fühlens. Beim Lesen kann das einen großen Sog entwickeln. | |
Angeordnet sind die zwölf jeweils aus der Sicht einer der Frauen | |
geschriebenen Abschnitte (es gibt noch einen Schlussabschnitt und dann noch | |
einen Epilog) als eine Art Reigen. Gerade hat man ein Leben aus der einen | |
Perspektive geschildert bekommen, da kommt im nächsten Abschnitt die andere | |
Perspektive. | |
## Aus der Hochhauswohnung in die Bankerkarriere | |
So begleiten wir im vierten Abschnitt Caroles Lebensweg, der sie aus einer | |
engen Hochhauswohnung mit Hilfe einer strengen Lehrerin in eine | |
Bankerkarriere führt. Der Aufstieg gelingt also, aber die Kosten werden | |
auch klar. Carole muss viele Mikroaggressionen weglächeln und darf sich | |
keine Schwächen erlauben. | |
Im nächsten Abschnitt geht es um die Hintergründe von Caroles Mutter Bummi. | |
In Nigeria lernt sie auf der Uni einen Mann kennen, mit dem sie dann nach | |
London geht, wo ihre Uniabschlüsse nichts wert sind. Er fährt Taxi, stirbt | |
früh, sie schlägt sich als Reinigungskraft durch, gründet dann eine eigene | |
Firma, führt schließlich ein ruhiges Leben allerdings voller emotionaler | |
Leerstellen – Bernardine Evaristo ist eine Meisterin darin, die | |
Ambivalenzen der Lebensentwürfe herauszuarbeiten. | |
Dann springt das Geschehen zu LaTisha, einer toughen, die Bitch performende | |
Schulfreundin von Carole, die drei Kinder von drei verschiedenen Männern | |
bekommt – LaTishas immer wieder anders scheiternde Vorsätze, nicht gleich | |
beim ersten Date Sex zu haben, beschreibt Evaristo sogar mit einiger Komik | |
(wobei die jeweiligen Männer natürlich schlecht wegkommen). | |
## Ohne Ambivalenzen geht es nicht | |
Als nächstes geht es um Shirley, die strenge Lehrerin, von LaTisha | |
„Arschgesicht“ genannt, die sich in einem weißen Lehrergremium behaupten | |
muss. Darauf wird aus der Sicht von Shirleys Mutter Winsome erzählt, die | |
sich darüber freuen kann, dass es ihre Kinder zu mehr gebracht haben als | |
sie, die aber auch – ohne Ambivalenzen macht es Evaristo nicht – in ihren | |
Schwiegersohn, eine virilere Version ihres eigenen Mannes, heimlich | |
verliebt ist. | |
Viele der einzelnen Lebensentwürfe sind interessant. Es gibt traumatische | |
Ereignisse im Hintergrund, Familiengeheimnisse, überraschende Wendungen. | |
Auch so eine Figur wie LaTisha kleidet Evaristo mit Würde aus. In Shirley | |
setzt sie der Figur einer ambitionierten Lehrerin, die gegen den Niedergang | |
des britischen öffentlichen Schulsystems seit Thatcher nicht ankommt, ein | |
Denkmal. Was einen aber genau durch das Buch zieht, sind die Beziehungen | |
der Figuren untereinander. Allmählich entsteht ein Teppich von Sichtweisen | |
und Verknüpfungen. | |
Das Wort „lebensprall“ trifft das Buch ganz gut. Zumindest wenn man gleich | |
hinzufügt, dass es hier nicht um das Leben an sich geht, sondern um das | |
Leben in einer ganz konkreten Situation. In einer Einwanderergesellschaft. | |
Unter den Bedingungen des Rassismus (und Sexismus). In einem historischen | |
Augenblick, in dem man glaubhaft schildern kann, dass einigen der Figuren | |
der Aufstieg ins Establishment gelingt und insgesamt die groben | |
Zuschreibungen und Ausgrenzungen weiterhin in Kraft sind. | |
## Rassismus überall | |
Was Rassismus betrifft, wird es hoffentlich einmal wissenschaftliche Essays | |
über den Umgang dieses Romans mit ihm geben. Er ist für die Figuren so | |
massiv vorhanden wie die Schwerkraft, geschildert wird er in allen | |
möglichen Ausprägungen von handfester Ausgrenzung bis hin zum Wegrücken im | |
Fahrstuhl. | |
Streckenweise funktioniert der Roman auch wie ein Geschichtsbuch. | |
Beschrieben wird etwa, wie Bummi und ihr Mann sich durch das Südengland der | |
fünfziger Jahre schlagen, weil er sich in den Kopf gesetzt hat, Arbeit als | |
Fischer zu finden: ein Spießrutenlaufen mit Beschimpfungen, Verhöhnungen | |
und Angespucktwerden. | |
Der Rassismus ist das Medium, in dem sich diese Lebensläufe bewegen. Doch | |
er wird hier nicht verhandelt, und er soll hier auch gar nicht allein | |
handlungsmotivierend sein. Entscheidend für die jeweiligen Lebensläufe sind | |
vielmehr die Beziehungen der Figuren untereinander. Da geht es viel um | |
Familie und das Zusammenraufen in ihr, um Freundschaften und ob sie auch | |
über Konflikte und veränderte Lebenssituationen tragen, viel auch um Sex. | |
„Mädchen, Frau etc.“ ist aber auch ein Roman über Trennungen. Es gibt | |
toxische Liebesbeziehungen, Unerfülltes. | |
Über LaTisha heißt es an einer Stelle: „sie versuchte, das alles zu | |
begreifen, sich selbst zu begreifen“. Dieser Satz ist ein Schlüssel für den | |
Roman als ganzes. Die Suche nach sich selbst treibt die meisten Figuren um, | |
die Identitätssuche (und eben nicht die Übernahme angeblich feststehender | |
Identitäten) fungiert mindestens ebenso sehr als Motor ihrer Lebensentwürfe | |
wie ihre Bemühungen, beengten sozialen Verhältnissen zu entkommen. | |
## Die Verkörperung des Anderen | |
Nicht entgehen lassen sollte man sich aber auch die abgründigen Ironien des | |
Buches, etwa in Bezug auf die Analyse, dass die Bevölkerung „les négresses | |
mehrheitlich nicht als persönlichen Bezugspunkt sieht, sondern vielmehr als | |
Verkörperung des Anderen“. Dieser Satz wird einem etwas slicken schwarzen | |
Professor in den Mund gelegt, der auch in Smalltalksituationen zum Dozieren | |
neigt, weshalb sich seine Gesprächspartner immer schnell aus dem Staub | |
machen. | |
Jaja, heißt das, Verkörperung des Anderen, schon wahr, aber es hat auch | |
etwas Blutleeres, das nur zu analysieren – während der Roman | |
Differenzierungen beschreibt, individuelle Perspektiven, persönliche | |
Bezugspunkte, auch Konflikte untereinander. | |
An anderer Stelle schildert Evaristo die soziale Technik des | |
„Hello-Goodbye-Sandwichs“: überschwängliche Begrüßung, überschwänglic… | |
Abschied, dazwischen möglichst wenig sagen. Wir sind hier auf einer | |
Premierenparty, da verfahren viele Menschen tatsächlich so. Bernardine | |
Evaristo ist einfach auch eine gute Beobachterin. | |
22 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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