# taz.de -- Literaturszene in Nigeria: Seltenes Forum für den Feminismus | |
> Das Kulturfestival Aké in Lagos ist ein wichtiger Ort für Diskussionen | |
> über Diversität. Hier spricht man sich deutlich gegen das Patriachat aus. | |
Bild: Bernardine Evaristo hat den diesjährigen Booker Prize gewonnen | |
LAGOS taz | Mona Eltahawy bekommt immer wieder begeisterten | |
Zwischenapplaus, wenn sie dem Patriarchat den Kampf ansagt. In einem roten | |
Kleid sitzt die 52-Jährige auf der Hauptbühne des Kunst- und | |
[1][Literaturfestivals Aké] in der nigerianischen Metropole Lagos und | |
spricht über ihr im September erschienenes Buch „The Seven Necessary Sins | |
for Women and Girls“. Schon vor ihrem Auftritt ist der Saal längst | |
ausverkauft. Eltahawy fragt das Publikum, wie viele Männer durch den | |
Feminismus gestorben sind. | |
„Niemand“, gibt sie die Antwort kurze Zeit später selbst. Durch | |
patriarchische Strukturen kommen hingegen täglich Frauen auf der ganzen | |
Welt ums Leben. Das muss sofort beendet werden. „F*** the patriarchy!“, | |
ruft sie.Die Journalistin und Aktivistin, die aus Ägypten stammt, aber in | |
den USA lebt, trifft in [2][Nigeria] den Nerv des überwiegend weiblichen | |
Publikums. | |
In einem Land, in dem Homosexualität mit bis zu 14 Jahren Gefängnis | |
bestraft werden kann und in dem Frauen bei der Wahl Ende Februar gerade | |
einmal 22 der 360 Sitze im Repräsentantenhaus erhalten haben, sind so | |
deutliche Worte nur selten zu hören. Auch wird nicht offen über [3][queeres | |
Leben] und Polyamorie gesprochen. Eltahawy tut es – und motiviert so vor | |
allem junge Frauen, Aktivist*innen, Schriftsteller*innen, Strukturen | |
nicht hinzunehmen, sondern sich dagegen aufzulehnen. | |
Podiumsdiskussionen, vor allem aber Bücher – egal, ob Sachbücher oder | |
Romane – bieten eine gute Möglichkeit, um gesellschaftliche Diskussionen | |
anzustoßen, auch wenn sie bisher in recht geschlossenen und geschützten | |
Räumen stattfinden. Das ist ein Ziel des [4][Aké-Festivals], das die | |
Autorin und Verlegerin Lola Shoneyin 2013 gegründet hat. In diesem Jahr | |
fand es erstmals nicht in der Provinzhauptstadt Abeokuta, sondern in Lagos | |
statt. | |
Es gilt als eines der größten Literaturfestivals des Kontinents und schafft | |
es, vor allem relevante afrikanische Stimmen zum Feminismus, aber auch zu | |
Debatten über Rassismus, Identität, Kolonialismus und Sklaverei sowie | |
Autor*innen aus der Diaspora zusammenzubringen; in diesem Jahr sogar mit | |
der Trägerin des Booker Prize 2019, Bernardine Evaristo. Mitte Oktober hat | |
sie die Auszeichnung gemeinsam mit Margaret Atwood erhalten. Evaristos | |
Teilnahme hatte jedoch schon Wochen vorher festgestanden. | |
Evaristo erhält stehenden Beifall, als sie gemeinsam mit der jamaikanischen | |
Autorin Nicole Dennis-Benn vor die Gäste tritt. Evaristos Vater war | |
Nigerianer. Sie ist die erste schwarze Britin, die den renommierten Booker | |
Prize erhalten hat. Es sei ein Label, das sie keineswegs stört, betont die | |
Autorin später im Interview. „Es ist das, was ich bin, das ist meine | |
Perspektive.“ | |
In ihrem ausgezeichneten Buch „Girl, Woman, Other“ verwebt sie die | |
Lebensgeschichten von zwölf schwarzen Frauen, die in Großbritannien leben. | |
Sie sind jung, alt, haben studiert, stammen aus der Arbeiterklasse, sie | |
sind lesbisch und heterosexuell. Das Buch ist Spiegel einer | |
Teilgesellschaft, die bisher wenig Beachtung in einem Literaturbetrieb | |
findet, der noch immer von weißen Männern geprägt ist. | |
Deshalb schafft die „Fusion Fiction“, wie Evaristo den Roman nennt, die | |
Möglichkeit zur Identifikation. Das scheint mehr als nötig, denn die Masse | |
der Romane wird weiterhin nicht aus der Perspektive afrikanischer oder | |
schwarzer Frauen erzählt. Gerade junge Leser*innen suchen mitunter | |
vergeblich nach Vorbildern. Evaristo fand in der im August verstorbenen | |
Autorin Toni Morrison, die als erste afroamerikanische Frau den | |
Literaturnobelpreis erhalten hat, ein solches Idol. Als Teenager in | |
Großbritannien hatte sie hingegen vergeblich nach Vorbildern gesucht. | |
## Migration, Fremdenfeindlichkeit und Brexit | |
Aktuell bietet der Roman „Girl, Woman, Other“ außerdem eine hervorragende | |
Vorlage, um über Migration, Fremdenfeindlichkeit und den Brexit zu | |
diskutieren. „Migrant*innen sind unentbehrlich für unsere Wirtschaft. Diese | |
floriert wiederum, weil wir immer wieder Migrationswellen hatten“, sagt | |
Evaristo. Deshalb besorgt sie der Brexit umso mehr. „Außerhalb | |
Großbritanniens wissen viele vermutlich nicht, dass die Hälfte der | |
Bevölkerung die EU gar nicht verlassen will. Dabei wurde uns immer gesagt, | |
dass der Wille der Bevölkerung das bestimmen soll. Dafür haben aber nur 52 | |
Prozent gestimmt.“ | |
Noch eine weitere Tendenz bereitet Evaristo Sorge. Das Referendum habe | |
einer neuen Dimension von Fremdenfeindlichkeit Tür und Tor geöffnet. Dinge, | |
die noch vor ein paar Jahren nicht ausgesprochen werden konnten, würden | |
wieder offen gesagt: „Briten sagen Menschen, die sie am Telefon Deutsch | |
oder Spanisch sprechen hören: Geht nach Hause! Es ist unfassbar.“ Sie | |
würden sich im Recht fühlen, ihren Rassismus, Fanatismus, ihre Homophobie | |
offen zum Ausdruck zu bringen. | |
In den USA befasst sich auch Nicole Dennis-Benn mit Debatten über Herkunft | |
und Hautfarbe. „Es klingt merkwürdig. Aber erst als ich in die USA ging, | |
wurde mir klar, dass ich schwarz bin. Rassisten definieren, wer man ist.“ | |
Begrenzen lassen sich die Diskussionen darüber jedoch nicht auf Europa und | |
die USA. „Zu Hause diskriminieren Menschen, die eine hellere Hautfarbe | |
haben, jene, deren Haut dunkler ist“, sagt sie über ihre Heimat Jamaika, | |
„das schmerzt noch mehr, als wenn eine weiße Person sagt, dass ich schwarz | |
bin. Es sind meine eigenen Leute, die mich unterdrücken.“ Proteste dagegen | |
gebe es bisher nicht. | |
Diesen Themen geht die 37-Jährige in ihrem Debütroman „Here Comes the Sun“ | |
nach, in dem die Protagonistin Delores ihrer Tochter Thandi sagt: „Niemand | |
liebt ein schwarzes Mädchen, nicht einmal du selbst.“ Es sei „die Stimme | |
der postkolonialen Narben“, die bis heute ganze Generationen mit sich mit | |
rumschleppen. Eine Aufarbeitung habe bisher nicht stattgefunden. | |
Delores, so erzählt die Autorin Dennis-Benn, meine es gut mit ihrer | |
Tochter. „Sie will sie vor der Enttäuschung bewahren.“ Dennis-Benn gibt zu, | |
dass es sehr schmerzhaft gewesen sei, diesen Satz zu schreiben. | |
Gleichzeitig sei es ein Heilungsprozess gewesen. „Als ich das Buch | |
geschrieben hatte, konnte ich endlich wieder frei atmen, weitermachen, mich | |
um andere Dinge kümmern.“ | |
Eins davon war der gerade erschienene Roman „Patsy“. Im Mittelpunkt steht | |
eine junge Frau, die als Arbeitsmigrantin aus Jamaika in die USA geht und | |
dort ohne Papiere lebt. Es ist eine Geschichte, wie sie tausendfach | |
geschieht, die aber bisher kaum erzählt worden ist. Ganz besonders in | |
Vergessenheit gerät dabei die Perspektive der Kinder. | |
Dennis-Benn erzählt, dass die meisten ihrer jamaikanischen Freundinnen mit | |
Anfang 20 Kinder bekommen haben. Migrant*innen lassen diese wegen der Suche | |
nach Arbeit oft bei ihren eigenen Eltern, sehen ihre Töchter und Söhne über | |
viele Jahre nicht, schicken stattdessen zu Weihnachten und zum Geburtstag | |
Geschenke und sagen ihnen: „Sei ein braves, folgsames Kind.“ Über die | |
„verlassenen Kinder“ und das, was die Migration eines oder beider | |
Elternteile mit ihnen macht, wird bisher ebenfalls geschwiegen. | |
Allerdings muss aktuelle Literatur nicht immer nur mit der Aufarbeitung von | |
Gesellschaftsthemen befasst sein. Oyinkan Braithwaite, Autorin des Romans | |
„My Sister, the Serial Killer“, gibt während einer der letzten | |
Podiumsdiskussionen des Festivals zu: „Ich wollte das Buch für mich | |
schreiben.“ Ihr Roman gilt ebenfalls als eine der besten Neuerscheinungen | |
und wurde ebenfalls für den Booker Prize nominiert. Auch eine Übersetzung | |
ins Deutsche sei im Gespräch, sagt Braithwaite. „Daran habe ich mich | |
bislang nicht gewöhnt. Bis heute mache ich Fotos, wenn ich es in | |
Buchhandlungen sehe.“ | |
Das Besonders an dem Buch der 31-Jährigen, die in Lagos wohnt: Es ist ein | |
Krimi, ein bisher auf dem afrikanischen Kontinent wenig beachtetes Genre. | |
Ein weiterer Beweis dafür, wie divers die Literaturszene mittlerweile | |
geworden ist. | |
29 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.akefestival.org/ | |
[2] /Nigeria/!t5007566 | |
[3] /Schwerpunkt-LGBTQIA-Community/!t5025674 | |
[4] /Literatur-glokal/!5599928 | |
## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
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