# taz.de -- Feministische Autorin Tillie Olsen: Vom Schweigen in der Literatur | |
> Die Autorin Tillie Olsen nahm viele ganz aktuelle Diskussionen über | |
> weibliches Schreiben vorweg. Endlich wird sie auf Deutsch entdeckt. | |
Bild: Tillie Olsen, hier in ihren Sechzigern, auf einem Familienfoto | |
„Es gibt so viel Ungeschriebenes, das noch geschrieben werden muss“ – in | |
diesem Satz verdichtet sich das große Anliegen der Schriftstellerin Tillie | |
Olsen, die 1912 als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer in den USA, | |
Nebraska, geboren wurde und 2007 starb: den Stimmen nachzugehen, die nicht | |
zum literarischen Ausdruck finden; die Gründe und Funktionsweisen des | |
Ausschlusses offenzulegen, den verschiedenen Arten des Schweigens und | |
Zum-Schweigen-gebracht-Werdens nachzuspüren – und sich für eine Literatur | |
einzusetzen, die alle Erfahrungen und Perspektiven in einer Gesellschaft | |
abbildet. | |
Unter dem Titel „Was fehlt. Unterdrückte Stimmen der Literatur“ sind ihre | |
in den USA erstmals 1978 veröffentlichten Essays nun in deutscher | |
Übersetzung zugänglich. Zu entdecken ist eine klarsichtige, genaue | |
Beobachterin gesellschaftlicher Verhältnisse und des Literaturbetriebs, | |
eine belesene Kennerin der Literaturtradition, vor allem im | |
englischsprachigen Raum, und eine Autorin, die ihrer Zeit voraus war. | |
Vier große Essays versammelt der Band, die sich stark aufeinander beziehen, | |
sich ergänzen, Themen vertiefen. Dabei bildet „Das Schweigen in der | |
Literatur“ so etwas wie den Urtext, er basiert auf einem Vortrag von 1962. | |
Schon hier beschäftigt Olsen die Frage nach den Bedingungen schöpferischen | |
Schaffens, beschreibt sie verschiedene Arten des Schweigens: „Bald ist es | |
das jahrelange Schweigen anerkannter Größen der Literatur, […] manchmal das | |
Verstummen, nachdem ein Werk erschienen ist; manchmal die Tatsache, dass es | |
gar nicht zu einer Veröffentlichung in Buchform kommt. […] [Ich] verspürte | |
im Laufe der Jahre das Bedürfnis, alles darüber zu lernen, was ich in | |
Erfahrung bringen konnte, blieb ich doch selber fast stumm und musste die | |
Schriftstellerin in mir wieder und wieder töten.“ | |
## Ihr Wunsch zu schreiben | |
Olsen hatte die Schule ohne Abschluss verlassen, sich schon früh politisch, | |
gewerkschaftlich engagiert; wurde Mutter von vier Töchtern und war meist | |
auf eine Erwerbsarbeit in Vollzeit angewiesen, kannte also selbst viele | |
Arten der Verhinderung ihres Wunsches zu schreiben. | |
Die Mutterschaft, die mit ihren Anforderungen einer Kontinuität grundlegend | |
zuwiderlaufe, die für das Schreiben nötig ist, spielt daher schon 1962 eine | |
wichtige Rolle. Lange vor dem Einzug feministischer Literaturtheorie, | |
-wissenschaft und -kritik benannte sie eine für Frauen grundlegend andere | |
gesellschaftliche Situation: die Fast-Unmöglichkeit, Schreibende und Mutter | |
zu sein. | |
Nicht nur aufgrund wirtschaftlicher Zwänge und der Sorgearbeit, sondern | |
auch, weil Schriftstellerinnen noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mit | |
der Ansicht konfrontiert wurden, Frauen hätten weder das Bedürfnis noch die | |
Fähigkeit, „Kunst zu schaffen, weil sie Kinder ‚schaffen‘ können“. | |
## Wenig Frauen im Kanon | |
In den folgenden ab 1971 entstandenen Texten spürt man einen veränderten | |
Ton, getragen von den inzwischen durch feministische Ansätze gewonnenen | |
Erkenntnissen. In „Eine von zwölf“ legt sie unter anderem dar, wie viel | |
weniger Frauen in Lektürekanons, Anthologien, Schullektüren, Bestenlisten, | |
Besprechungen vorkommen – und wie und warum sich dies fortschreibt; wie | |
voreingenommen meist männliche Kritiker gegenüber Themen und Stil von | |
Autorinnen sind: Einerseits gelten Themen nicht als literaturwürdig, | |
darunter alles, was mit Mutterschaft, dem weiblichen Körper zu tun hat; | |
andererseits wird Frauen abgesprochen, überhaupt in der Lage zu sein, über | |
„ ‚das große Ganze‘, [das] Politische, [das] Soziale“ zu schreiben. | |
Hier kommt man nicht umhin, die Aktualität dieser Aspekte zu betonen. Man | |
lese zum Beispiel [1][Nicole Seiferts Buch „Frauen Literatur“] von 2021 – | |
und reibe sich die Augen angesichts dessen, was sich zu wenig verändert | |
hat. Aber auch Julia Wolf legt kluge Fäden diesbezüglich in ihrem Vorwort | |
zu Olsen. | |
Auch die anderen „Stimmenunterdrücker der Menschheit, Klasse und/oder | |
Hautfarbe“, hat Olsen im Blick. In „Dem Schweigen auf der Spur“ greift sie | |
die Diskriminierung Schwarzer Autorinnen und Autoren sowie die Bedeutung | |
ökonomischer Bedingungen und der Bildung auf, kritisiert die Einengung auf | |
die heterosexuelle Perspektive. Und betont, dass die Kategorien | |
ineinandergreifen – ein früher intersektionaler Ansatz also. | |
## Moderne Mehrstimmigkeit | |
Was die Lektüre zudem so anregend macht, ist die Methode Olsens: Sie ruft | |
viele Autor*innen vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts auf, um ihre | |
Gedanken zu stärken, zu bezeugen. Von den Brontë-Schwestern über Kafka und | |
Virginia Woolf [2][bis zu Margaret Atwood] – aus Tagebüchern, Briefen und | |
Werken werden sie, aber auch viele weniger bekannte zitiert, und so | |
schreiben sie den Text mit, entsteht eine modern anmutende Mehrstimmigkeit. | |
In gewisser Weise setzt Olsen hier, im Rahmen des Möglichen, ihre | |
emphatisch vorgetragene Idee einer Literatur um, in der alle Stimmen mit | |
ihren Erfahrungen zum Ausdruck kommen. | |
Die Essays sind eine literarische Fundgrube und in ihrer Form eine Art | |
literarische Collage. Hier spricht, schreibt, ganz klar eine | |
Schriftstellerin. | |
Fast wäre sie selbst eine der Unsichtbaren geworden, schreibt Olsen. Doch | |
glücklicherweise gibt es ihren Erzählband, der 1961 unter dem Titel „Tell | |
Me a Riddle“ erschien und jetzt zeitgleich mit den Essays auf Deutsch | |
vorliegt. In „Ich steh hier und bügle“ verknüpft Olsen vier längere | |
Erzählungen auf gerade mal gut 130 Seiten zu einem sehr intensiven und | |
formal so eigenwilligen wie überzeugenden Stück Literatur. | |
## Feinste Spracharbeit | |
Drei Generationen einer in die USA emigrierten russisch-jüdischen Familie | |
umfassen die Storys. Olsen holt das von ihr Vermisste in die Texte: | |
Mutterschaft als Erfahrungsraum existenzieller menschlicher Erfahrungen, | |
Armut, Rassismus und Geschlechterverhältnisse. Ihre Schreibweise ist von | |
großer Unmittelbarkeit, die das Ergebnis feinster Spracharbeit ist. | |
Direkte und innere Rede wechseln einander abrupt ab; die Perspektive einer | |
Figur verschiebt sich plötzlich zu der einer anderen. Eine literarische | |
Spannung liegt im Auseinanderklaffen von innerem Erleben und äußerem | |
Geschehen. | |
Etwa in „He, Seemann, wohin die Fahrt?“, wo Whitey, Seemann und ein alter | |
Freund von Helens Familie, nach Jahren wiederauftaucht, desillusioniert, | |
angetrunken: „Unzählige Stufen, er schafft es kaum bis oben. Helen (Helen? | |
so … grau?), Carol, Allie branden auf ihn zu. Fieberhaftes Umarmen und | |
Küssen. War auch Zeit, kreischt Carol wieder und wieder. War auch Zeit. […] | |
Wusste nicht mehr, wie groß das Wohnzimmer ist. (Und ist er wirklich | |
hier?)“. | |
## Geradezu körperlich spürbar | |
Die Unruhe Whiteys, sein Überwältigtwerden von Eindrücken wird geradezu | |
körperlich spürbar. Olsen vermag die Überlappung, die Fast-Gleichzeitigkeit | |
verschiedener, oft widersprüchlicher Empfindungen, Wahrnehmungen ihrer | |
Figuren beeindruckend zu vermitteln. So entstehen dichte, intensive und | |
berührende Texte, in denen die Lesenden den Protagonist*innen sehr | |
nahekommen. | |
Auch in „Erzähl mir ein Rätsel“, wo sich ein altes Paar immer mehr | |
entfremdet (Helens Schwiegereltern). „(Essig hat er sein Leben lang über | |
mich geträufelt; ich bin gut mariniert; wie kann ich jetzt Honig sein?)“ – | |
mit diesem eindrücklichen Bild lässt Olsen Eva – nur in Gedanken – die | |
Beschwerden ihres Mannes kommentieren. Olsen erzählt so klug wie einfühlsam | |
von Fremdheit in der Familie, Hilflosigkeit angesichts einer tödlichen | |
Krankheit und von einer Nähe, die dadurch wieder fühlbar wird. Und nutzt | |
auch die grafische Gestaltung des Textes als literarisches Mittel: So | |
spiegelt sich hier Evas verlangsamtes, mühsames Sprechen, auch Denken, | |
aufgrund ihrer Krankheit in langen Unterstrichen, welche die Worte, die | |
Satzteile auseinanderziehen. | |
„[…] manchmal das Verstummen nachdem ein Werk erschienen ist“, heißt es … | |
den Essays: Der seinerzeit preisgekrönte Erzählband blieb Olsens | |
literarisches Hauptwerk; 1974 erschien noch das Romanfragment „Yonnondio“. | |
Sie hielt viele Vorträge, lehrte, war politisch aktiv. Warum sie aber | |
literarisch schwieg? Dass sie in den Geschichten alles Wesentliche erzählt | |
habe, wie Jürgen Dormagen in seinem ansonsten erhellenden Nachwort | |
vermutet, scheint angesichts ihrer Aussagen in den Essays und der im | |
Erzählband aufscheinenden verdichteten (Lebens-)Fülle unwahrscheinlich. | |
Das von ihr nicht Geschriebene gehört wohl zu den unwiederbringlichen | |
Verlusten in der Literatur. | |
27 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Carola Ebeling | |
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