| # taz.de -- Neuer Roman von Julia Wolf: In der Kindheit hängen geblieben | |
| > Julia Wolf erzählt von Neunzigjährigen, pensionierten Krankenschwestern | |
| > und Frauen mit Alkoholproblemen. „Alte Mädchen“ heißt ihr neuer Roman. | |
| Bild: Strom der Lebensweisheiten: Schriftstellerin Julia Wolf | |
| „Wie läuft das Kind nur herum“, ging es der Erzählerin durch den Kopf. �… | |
| wollen das Kind flicken und kämmen, sofort. Doch man zischt uns nur an. Wir | |
| sollen es lassen, das Mädchen. Gefälligst. Die Enkelin will hässlich sein, | |
| mit zottligen Haaren und diesen rußigen Augen – Sie hat russische Augen? | |
| Nein, Gott bewahre, der Russe kommt mir nicht ins Haus.“ | |
| Entsetzt sagt die Enkelin: „Was heißt hier DER Russe.“ – Und heute? „H… | |
| ist sie ganz anders. Eine erwachsene Frau, selbst schon Mutter. Ihr habt | |
| sie doch gesehen! Bisschen müde, aber eigentlich recht freundlich.“ | |
| Das „Wir“ der Erzählerin in Julia Wolfs neuem Roman „Alte Mädchen“, d… | |
| sind drei alte Damen. Sie leben im Altenheim – nein, in einer „Residenz“ … | |
| und sind schon über neunzig. Frühmorgens schleichen sie sich an der noch | |
| unbesetzten Rezeption vorbei und setzen sich auf die Bank am Eingang. Dann | |
| wird beobachtet und kommentiert und erinnert. Ein Stream of Conciousness, | |
| manchmal ein bisschen wirr, aber oft sehr genau. Auf jeden Fall | |
| eigensinnig. | |
| Es gibt nicht viele Romane in der deutschen Gegenwartsliteratur, die im | |
| Altenheim spielen. Dabei ist der „Ruhesitz“, vor dessen Hintergrund der | |
| Strom der Kommentare, Erinnerungen und Lebensweisheiten der drei Frauen | |
| verläuft, auch jenseits des Klischees von Hundertjährigen auf der Flucht | |
| [1][eine Quelle von Geschichten.] | |
| Dass Alte uninteressant sind, ist wohl eher eine Folge des Kapitalismus, in | |
| der nur das als interessant gilt, was verwertet werden kann, und das sind | |
| arbeitende junge Menschen, die auf die Frage „Was machst du?“ mit einer | |
| Berufsbezeichnung antworten können. | |
| ## Verzweifelt Richtung Polen | |
| Der zweite Teil von „Alte Mädchen“ ist [2][eine Road-Story.] Die | |
| pensionierte Krankenschwester Gudrun rast mit ihrer Schwester Gerlinde und | |
| Ola, die ihre Mutter bis zu deren Tod gepflegt hat, auf der Autobahn in | |
| Richtung Osten. Denn Ola will nach Polen, nach Hause. Immer wieder versucht | |
| Gudrun verzweifelt ihre Nichte Tini zu erreichen. | |
| Aber die meldet sich nicht, und darin besteht das Problem. Denn weder | |
| Gerlinde noch Gudrun hatten gewusst, dass ihre Mutter testamentarisch nicht | |
| ihnen, sondern ihrer Enkelin das Haus vererben würde. Die aber will wegen | |
| der Nazi-Vergangenheit des Großvaters und der Großmutter nichts mehr mit | |
| der Familie zu tun haben und arbeitet in einem sozialen Projekt in | |
| Kambodscha. | |
| Wenn Tini aber das Erbe nicht antritt, kann das Haus nicht verkauft werden | |
| und Ola nicht den ihr versprochenen Lohn erhalten. Also bespricht Gudrun | |
| stundenlang Tinis Mailbox, um sie dazu zu bringen, sich zu melden. Und | |
| versucht dazu, ihr – und damit auch dem Leser – die Familiengeschichte | |
| verständlich zu machen. | |
| Auch im dritten und letzten Teil von „Alte Mädchen“ wechselt Julia Wolf das | |
| Personal. Jenny hat ihre alten Freundinnen Thao und Undine zu sich nach | |
| Hause eingeladen. Sie lebt allein und erwartet ein Kind. Außerdem kommt | |
| außerplanmäßig noch Kay dazu, die Tochter von Jennys großer, unglücklicher | |
| Liebe. | |
| ## Wie im richtigen Leben | |
| Die drei Frauen und das Mädchen sind so unterschiedlich wie ihre | |
| Perspektiven. Thao ist schon immer sehr ehrgeizig gewesen und inzwischen | |
| erfolgreiche Anwältin. Weil sie einen so strengen Eindruck macht, nennt sie | |
| Kay für sich die „Kommissarin“. Undine jobbt sich mit Kneipenjobs durchs | |
| Leben, kann gut mit Kindern umgehen, hat aber ein Alkoholproblem. Und Jenny | |
| bekommt zwar ein Kind, hat aber keinen Partner/Partnerin. | |
| Es ist nicht ganz einfach, den Überblick über die wechselnden Perspektiven | |
| von „Alte Mädchen“ zu behalten. Trotzdem gelingt es Julia Wolf, jede ihrer | |
| Frauenfiguren auf eine ganz eigene Art zu gestalten. Manchmal überrascht | |
| sie den Leser, weil ihre Figuren – wie im richtigen Leben – anders | |
| reagieren, als man denkt. Beides macht dann auch die in allen drei Teilen | |
| mehr oder minder gleich bleibende sprachliche Form wieder wett. | |
| Am Ende, im Rückblick auf das Buch, wird klar, weshalb Julia Wolf den Titel | |
| „Alte Mädchen“ gewählt hat. Von den Neunzigjährigen im ersten Teil über… | |
| beiden Schwestern auf dem Weg nach Polen bis zu den jüngeren Freundinnen im | |
| letzten Teil sind alle Frauen auf die eine oder andere Weise i[3][n ihrer | |
| Kindheit hängen geblieben.] Alte Mädchen eben, denen es – gerade wenn es | |
| darauf ankommt – nicht gelingt, diese Rolle abzulegen. Deshalb scheitern | |
| sie. | |
| Gleichzeitig schildert Wolf, wie sie versuchen, sich selbst zu behaupten | |
| und mit viel Energie aus der Grube, in die sie gefallen sind, | |
| herauszuarbeiten. Das alles zusammen macht „Alte Mädchen“ zu einem | |
| lesenswerten Buch. | |
| 15 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fokke Joel | |
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