# taz.de -- „Planet ohne Visum“ von 1947: Verräter, Renegaten, Widerständ… | |
> Jean Malaquais’ Roman „Planet ohne Visum“ von 1947 über die prekäre W… | |
> Marseilles während des Zweiten Weltkriegs wurde nun ins Deutsche | |
> übersetzt. | |
Bild: Die einen warten auf ein Visum, die anderen kollaborieren mit den Nazis: … | |
Jean Malaquais war seiner Zeit weit voraus. So weit, dass sein Roman | |
„Planet ohne Visum“, der 1947 in Frankreich erschien, von der Kritik zwar | |
gelobt wurde, aber sonst weitgehend unbeachtet blieb. Dabei hatte der in | |
den 1920er Jahren aus Polen nach Frankreich emigrierte Autor 1939 mit „Les | |
Javanais“ nicht nur den renommierten Prix Renaudot gewonnen, sondern auch | |
einen Verkaufserfolg gelandet. | |
„Planet ohne Visum“ ging dagegen nur schleppend über den Ladentisch. Hat | |
man den Roman gelesen, liegen die Gründe dafür auf der Hand: Nur wenige | |
Franzosen wollten kurz nach Krieg und deutscher Besatzung ein Buch lesen, | |
in dem ihre Beteiligung am Holocaust thematisiert wurde. | |
„Planet ohne Visum“ spielt im Marseille des Jahres 1942. Der Norden | |
Frankreichs ist von den Deutschen besetzt, der Süden wird von der Regierung | |
in Vichy unter Führung von Marschall Pétain regiert. Die Einwohnerzahl der | |
Hafenstadt an der Mittelmeerküste ist durch geflohene Juden und politisch | |
Verfolgte um das Doppelte angewachsen. Alle warten auf ein Visum, haben | |
Angst, in eines der berüchtigten Internierungslager deportiert oder an die | |
Deutschen ausgeliefert zu werden. | |
## Besatzung, Widerstand, Emigration | |
Es sind ganz unterschiedliche Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus, | |
mit denen Malaquais sein Panorama der deutschen Besatzung, des Widerstandes | |
und der Emigration entfaltet. Da ist zum Beispiel der „Colonel“, ein | |
ehemaliger Literaturprofessor aus Italien, der eigentlich Colona heißt. | |
Im Hafencafé Bon Aloi versammeln sich um ihn Flüchtlinge und Gegner der | |
Deutschen und des Vichy-Regimes. Zusammen mit seiner Enkelin Gervaise | |
unterstützt er das Emergency Rescue Commitee, eine in Amerika gegründeten | |
Hilfsorganisation, die bedrohten europäischen Künstlern und Intellektuellen | |
die Flucht zu ermöglichen versucht. | |
Gervaise betrügt dazu unter dem falschen Namen den in sie verliebten | |
Regionalprefäkten Adrien de Pontillac. Sie gibt vor, über ihre angeblichen | |
Kontakte in die USA die wertlosen Francs einer reichen Freundin von | |
Pontillacs Familie in harte Dollars umtauschen zu können. | |
## Geld für Rescue Commitee | |
Dabei betrügt Pontillac die Freundin der Familie mit einem falschen | |
Wechselkurs, ahnt aber nicht, dass Gervaise ihn wiederum mit gefälschten | |
telegrafischen Einzahlungsbestätigungen hintergeht und das Geld über ihren | |
Großvater an das Rescue Commitee weiterleitet. | |
Oder Ivan Stépanoff, ein ehemaliger Bolschewist und bekannter marxistischer | |
Theoretiker, der die Lager Stalins überlebt hat und mit seinem Sohn aus der | |
Sowjetunion fliehen konnte. Für den jungen Kommunisten Marc Laverne ist er | |
bereits ein Verräter, ein Renegat. | |
Für ihn hat Stépanoff noch den „falsche Flitter früherer Zeiten […], der | |
ihn viel eher in die Lage versetzte, Arglose in die Irre zu führen“, und | |
ist deshalb „gefährlicher als ein offener Feind“. Auch sein Sohn Youra | |
hadert mit Stépanoff, aber aus anderen Gründen. Bei ihm geht es um die | |
fragile Vater-Sohn-Beziehung. | |
## Politische Machtkämpfe | |
Im Bistro Au fier Chasseur treffen sich sowohl Flüchtlinge als auch | |
Anhänger des Vichy-Regimes. Der Besitzer des Cafés ist Mitglied im Service | |
d’ordre légionaire, der antisemitischen paramilitärischen Eingreiftruppe | |
Pétains. Doch er macht in der Stadt, deren Einwohnerzahl nach dem Sieg der | |
Deutschen so sehr angewachsen ist, gute Geschäfte und hält sich in seinem | |
Café mit politischen Aussagen zurück. | |
Einer seiner ehemaligen Kellner wird zum Chef des berüchtigten | |
Internierungslagers Les Milles. Er traut seinem ehemaligen Chef nicht über | |
den Weg, will endlich auch mal das Sagen haben und macht sich an dessen | |
junge Tochter heran. | |
Malaquais zeichnet seine Figuren mit allen ihren Widersprüchen, erzählt von | |
politischen Machtkämpfen, die sich mit den persönlichen Beziehungen und | |
Gefühlen vermischen; es geht um Liebe und Verrat. Sein allwissender | |
Erzähler schlüpft in jede Figur und gibt ihr einen ganz eigenen Charakter. | |
## Widerstand und Verrat | |
Fest gefügte Vorstellungen von Gut und Böse, Linken und Rechten werden in | |
Frage gestellt. Menschen, von denen man es nicht erwartet hätte, werden zu | |
Verrätern, andere tauchen plötzlich im Widerstand auf. Gleichzeitig kann | |
Malaquais atmosphärisch und sprachlich so lebendig erzählen, dass vor dem | |
inneren Auge des Lesers die prekäre Welt Marseilles während der deutschen | |
Besatzung lebendig wird. | |
Auch wenn die Vielzahl der Figuren, die Sprünge zwischen den einzelnen | |
Erzählsträngen, am Anfang eine konzentrierte Lektüre verlangen, | |
vereinfachen es die in ihrer Psychologie und ihrem Milieu unterschiedlich | |
geschilderten Figuren, nicht den Überblick zu verlieren. Die | |
atmosphärische, mit großer sprachlicher Fantasie erzählte Geschichte zieht | |
zudem immer weiter in den Roman hinein | |
„Planet ohne Visum“ erinnert in seiner Schreibweise, mit seinen | |
unterschiedlichen Handlungssträngen und seiner Kunst der Figurenschilderung | |
an Falladas „Jeder stirbt für sich allein“. Ein Roman, der gleichfalls 1947 | |
erschienen ist und wie „Planet ohne Visum“ keinen guten Start hatte. Das | |
Buch wurde in der DDR zwar immer wieder aufgelegt, aber mit Änderungen, die | |
Fallada, der kurz nach der Fertigstellung des Romans starb, nicht | |
autorisiert hatte. | |
## „Jeder stirbt für sich allein“ | |
Die Welt sollte sich im Sinne der Kulturpolitik der DDR für den Leser fein | |
säuberlich in Gut und Böse aufteilen lassen. So durfte das | |
Widerstandsehepaar vor ihrem Zweifel am Regime keine überzeugten | |
Nationalsozialisten gewesen sein und die kommunistische Widerstandszelle | |
keine eigenen Leute opfern, wie es in Falladas Manuskript stand. | |
In der BRD wurde der Roman erst Anfang der 1960er Jahre und da auch nur als | |
Taschenbuch veröffentlicht. Hier wollte man zunächst überhaupt nicht von | |
der dunklen Vergangenheit lesen. Abgesehen davon, dass sich die | |
West-Ausgabe an die ideologisch geglättete DDR-Ausgabe hielt. Erst 2011, | |
nach dem Welterfolg des Romans, wurde die ursprüngliche Version in | |
Deutschland veröffentlicht. | |
Für „Planet ohne Visum“ konnte Malaquais auf sein eigenes, jahrzehntelanges | |
prekäres Leben zurückgreifen. Als Wladimir Palacki in einer jüdischen | |
Familie in Warschau geboren, hatte er im Alter von 17 Jahren Polen | |
verlassen und war durch Osteuropa und den Nahen Osten gereist. | |
## Stadt seiner Träume | |
Ende 1926 ließ er sich in Paris nieder, der Stadt seiner Träume, dem Ort | |
von Freiheit und Revolution, wie er in einem Interview sagte, wo er | |
allerdings erst über zwanzig Jahre später französischer Staatsbürger werden | |
konnte. Er lernte André Gide kennen, der ihn förderte, und veröffentlichte | |
„Les Javanais“. | |
Als Deutschland 1940 in Frankreich einmarschierte, wurde er als Soldat | |
eingezogen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Er konnte fliehen und ging | |
mit seiner Lebensgefährtin, der Malerin Galy Yurkevitch, in die unbesetzte | |
Zone nach Marseille, wo er erst zwei Jahre später, durch die Fürsprache | |
André Gides und mithilfe des Emergency Rescue Committee, ein Ausreisevisum | |
erhielt und im letzten Moment Europa verlassen konnte. | |
Über Mexiko zog er zusammen mit Galy Yurkevitch in die USA, von wo das Paar | |
erst 1947, mit Nansen-Pässen für Staatenlose, nach Frankreich zurückkehren | |
konnte. | |
## Stalin als Inkarnation des Bösen | |
Malaquais war Kommunist, hatte sich 1947 der linkskommunistischen | |
Splitterpartei Gauche Communiste de France angeschlossen. Bereits in „Les | |
Javanais“ schildert er Stalin als Inkarnation des Bösen. Die Distanz, die | |
ihm einen menschlichen Blick auf die Widersprüche auch der Linken | |
ermöglichte, haben ihn zum Visionär eines undogmatischen Denkens gemacht. | |
Mit „Planet ohne Visum“ war er damit seiner Zeit voraus. Gleichzeitig ist | |
der Roman, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, mit der Visafrage, | |
den Flüchtlingen und der Frage nach dem Widerstand gegen Putin, aktueller | |
denn je. | |
11 Nov 2022 | |
## AUTOREN | |
Fokke Joel | |
## TAGS | |
Roman | |
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Deutschland | |
Besatzung | |
Flucht | |
NS-Widerstand | |
wochentaz | |
Paarbeziehungen | |
Literatur | |
Belarus | |
Spanien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neues Sachbuch über Staatenlose: Der Mensch als Rechtskategorie | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Menschen staatenlos. Ein Sachbuch | |
rekonstruiert den politischen und rechtlichen Umgang mit ihnen. | |
Neuer Roman von Julia Wolf: In der Kindheit hängen geblieben | |
Julia Wolf erzählt von Neunzigjährigen, pensionierten Krankenschwestern und | |
Frauen mit Alkoholproblemen. „Alte Mädchen“ heißt ihr neuer Roman. | |
Feministische Autorin Alba de Céspedes: Ein Heft für sich allein | |
Die italienisch-kubanischen Autorin Alba de Céspedes war eine sehr | |
erfolgreiche Autorin und Widerstandskämpferin. Nun wird ihr Werk neu | |
entdeckt. | |
Belarus und der Widerstand der Literatur: Land im Koma | |
Sasha Filipenkos Roman „Der ehemalige Sohn“ greift historische Ereignisse | |
in Belarus auf und zeigt mit Humor das Bild eines Unterdrückungsapparats. | |
Auf den Spuren des Nazi-Vaters: Doppeltes Schweigen | |
Bernardo Fuster sang in Spanien gegen Franco. Seit er weiß, dass sein Vater | |
ein hoher deutscher Nazi war, sieht er Parallelen zu seinem eigenen Leben. |