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# taz.de -- Neues Sachbuch über Staatenlose: Der Mensch als Rechtskategorie
> Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Menschen staatenlos. Ein Sachbuch
> rekonstruiert den politischen und rechtlichen Umgang mit ihnen.
Bild: Zertifikat eines jüdischen staatenlosen Kindes im Ghetto des japanisch b…
Bevor Staatenlosigkeit die Juristen beschäftigte, handelte es sich dabei
lediglich um ein literarisches Thema. Romane über Seeleute, die ohne
Papiere dazu verdammt waren, immer weiter über die Ozeane zu fahren,
faszinierten die Leserschaft des 19. Jahrhunderts.
Wie die Historikerin Mira L. Siegelberg darlegt, hatte man es, der
verbreiteten Ansicht unter Völkerrechtlern zufolge, jedoch nicht mit einem
tatsächlichen Problem zu tun. Zwar gab es durchaus Menschen, die ihre
Staatsbürgerschaft verloren hatten, doch mussten andere Länder diesen
Verlust nicht anerkennen.
Erst ein brisanter Gerichtsprozess änderte etwas an dieser Auffassung. Der
Ingenieur und Manager Max Stoeck ging nach dem Ersten Weltkrieg gegen seine
Enteignung durch den britischen Staat vor. Der Versailler Vertrag erlaubte
den Alliierten das Entziehen des Vermögens von Deutschen, die sich auf
ihren Staatsgebieten aufhielten.
Stoeck allerdings behauptete, eben kein Deutscher mehr zu sein, sondern
staatenlos. Tatsächlich hatte er bereits viele Jahre vor dem Krieg seinen
Pass abgegeben, was ihm eine preußische Behörde auch bestätigte.
## Ausbürgerung akzeptieren?
Die Frage, die das Gericht zu klären hatte, bestand darin, ob
Großbritannien die durch einen anderen Staat durchgeführte Ausbürgerung
akzeptieren musste oder ob Staatenlosigkeit weiterhin von juristischer
Perspektive aus betrachtet nichts weiter war als eine Fiktion.
Der Prozess wurde aus zwei Gründen von Völkerrechtlern mit großem Interesse
verfolgt. Zunächst war Staatenlosigkeit nach dem Krieg, als ethnisch so
diverse Reiche wie Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich zerfielen,
ein Problem, das, abhängig von seiner juristischen Definition, potenziell
Massen von Menschen betreffen konnte.
Und zum anderen berührte eine mögliche Bestätigung von Staatenlosigkeit
auch die Machtfülle eines einzelnen Staates im Gefüge des Völkerrechts.
War das juristische System einer Nation befähigt, die Entscheidung einer
anderen für nichtig zu erklären? Das mit dem Fall betraute Gericht sorgte
für einen Paukenschlag, indem es diese Frage verneinte und zu Stoecks
Gunsten entschied. Damit wurde die völkerrechtliche Idee staatlicher
Souveränität gestärkt.
In dem auf ihrer Doktorarbeit beruhenden und vielfach prämierten Buch
analysiert die in Cambridge lehrende Mira L. Siegelberg die in den nächsten
Jahrzehnten fortgeführten Diskussionen über Staatenlosigkeit unter
Völkerrechtlern. Sie fanden Eingang in Verfassungen, internationale
Abkommen, Resolutionen des Völkerbunds und später der Vereinten Nationen.
## Vom Staatenlosen zum Geflüchteten
Stehen heute Geflüchtete im Zentrum der Aufmerksamkeit, war der Staatenlose
von den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts bis in die Wirren der Jahre
nach dem Zweiten Weltkrieg eine zentrale Figur in völkerrechtlichen
Debatten. An ihrem Verständnis formten sich die Grenzen der Macht von
Staaten, die aus den zerfallenden Imperien hervorgingen.
Das Stoeck-Urteil legte fest, dass von einem anderen Land getroffene
Entscheidungen über Aus- und Einbürgerung zu akzeptieren wären. Damit war
jedoch nicht geklärt, auf wessen Schutz all die Millionen Menschen hoffen
konnten, die in Stoecks Lage waren.
Der neu gegründete Völkerbund nahm sich ihrer an, wodurch der Staatenlose
zeitweise sogar die Utopie eines Weltbürgers inspirierte, der nicht mehr
auf die Zugehörigkeit zu einer Nation angewiesen war. Er wäre als einzelner
Mensch direkt Subjekt des Völkerrechts und nicht mehr indirekt als Bürger
eines Staates.
## Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Diese Hoffnung wurde jedoch bald enttäuscht. Die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen
verabschiedet wurde, bekräftigte in Artikel 15 zwar ein Recht auf
Staatsangehörigkeit, doch war und ist der Katalog nicht bindend.
In der Nachkriegszeit verschärfte sich die Lage für den einzelnen
Betroffenen sogar, indem Staatsangehörigkeit an soziale Bedingungen
geknüpft wurde.
Sie beschrieb nun nicht mehr rein formal das Verhältnis zwischen dem
Inhaber eines Passes und der diesen ausstellenden Nation, sondern war an
Kategorien wie die kulturelle und sprachliche Zugehörigkeit, an emotionale
Bindung und die Ansässigkeit auf einem bestimmten Territorium geknüpft.
## Gekaufte Staatsbürgerschaft
Siegelberg verweist auf den Fall des gebürtigen Deutschen Friedrich
Nottebohm, der sich vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die
Staatsbürgerschaft Liechtensteins gekauft hatte, um einer Enteignung durch
Guatemala, das Land, in dem er als Unternehmer lebte, zu entgehen. Doch er
blieb damit erfolglos, Guatemala erkannte den Wechsel der
Staatsbürgerschaft nicht an, da Nottebohm nicht über eine soziale Bindung
zu Liechtenstein verfügte.
1955 wurde das Land vom Internationalen Gerichtshof in dieser Ansicht
bestätigt. Erneut hatten sich die Vorstellungen über die Souveränität von
Staaten und die Kriterien von Staatsbürgerschaft stark gewandelt.
Mira L. Siegelberg vollzieht diese Dynamiken am Beispiel ihres Themas nach
und führt sie immer wieder auf unterschiedliche ideologische Vorannahmen
zurück. Ihr Buch bietet damit sehr erhellende Einsichten in die junge
Geschichte des Völkerrechts.
19 Jul 2023
## AUTOREN
Michael Wolf
## TAGS
wochentaz
Politisches Buch
Staatenlosigkeit
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Schwerpunkt Erster Weltkrieg
Staatsvertrag
Völkerrecht
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
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