# taz.de -- Michel Friedman über sein Buch: „Mich interessiert das Leben“ | |
> Michel Friedman hat mit „Fremd“ ein berührendes Buch vorgelegt. Es | |
> erzählt von tiefster Trauer, Verletzungen und einem Gefühl des | |
> Fremdseins. | |
Bild: Trotz allem Optimist: Michel Friedman | |
taz am wochenende: Herr Friedman, ihre intellektuelle und politische Vita | |
beeindruckt durch eine enorme Vielfalt an Themen und Zugängen. Woher kommt | |
Ihre Neugier? | |
Michel Friedman: Mich interessiert das Warum – das Warum der Existenz, des | |
Lebens, des Seins. Mich interessiert das Leben. Und mich interessieren | |
Menschen. Deswegen habe ich diese Neugier, den Drang, aus verschiedenen | |
Perspektiven heraus zu verstehen. Mein Lebenszeichen ist das Fragezeichen. | |
Und so versuche ich mich an vielen Aufgaben, die mich herausfordern, wo ich | |
lernen muss. Zu lernen bedeutet für mich etwas außerordentlich Positives. | |
[1][In „Fremd“ geht es zentral auch um Ihre Beziehung zu Ihren Eltern.] | |
Haben Ihr Vater und Ihre Mutter Ihnen diesen intellektuellen Durst | |
mitgegeben? | |
Meine Eltern blieben ohne Abitur und Studium, weil Hitler sie an ihren | |
Lebensplanungen gehindert hat. Mich haben sie dann auf Händen getragen, zum | |
Wissen, zum Lernen. Mein Vater sagte immer wieder: Sie können dir alles | |
nehmen, nur nicht das, was du im Kopf hast. Grundsätzlich glaube ich, dass | |
Wissen und Bildung, Neugier auf die Welt, die Grundlage für ein gutes | |
Leben, für eine menschliche Gesellschaft sind. Der größte Skandal auch der | |
deutschen Gesellschaft ist die unzureichende Verwirklichung von | |
Bildungsgerechtigkeit. Das betrifft besonders Migranten und ihre | |
Nachkommen. Ich selbst kam nach Deutschland ja auch als Migrant. Als Kind, | |
mit einem UN-Flüchtlingspass. Ohne Deutschkenntnisse bin ich dann aufs | |
Frankfurter Goethe-Gymnasium. Auch die Unterstützung und Motivation durch | |
einige Lehrerinnen und Lehrer hat mich mit zu dem gemacht, der ich heute | |
bin. Bildung darf jedoch kein Zufall sein! | |
Nach dem Abitur haben Sie zunächst Medizin, dann Jura studiert. Was hat Sie | |
zu diesen beiden Fächern gebracht? | |
Mein Vater wollte, dass ich Medizin studiere. Das hing mit seiner | |
Lebenserkenntnis zusammen: Wenn wir eines Tages flüchten müssten, könnte | |
ich als Arzt überall wieder anfangen. Selbst der Nazi brauchte im KZ, wenn | |
er Zahnschmerzen hatte, einen Arzt. Mit 18 Jahren war mein Traum | |
allerdings, an der Columbia Philosophie zu studieren – und später | |
Chefredakteur der New York Times zu werden (lacht). Das Medizinstudium | |
brach ich nach einer Weile ab. Die Kompromisslösung war dann Jura, was mir, | |
dessen Eltern nicht wohlhabend waren, ökonomisch mehr Sicherheit | |
garantierte. Mit Mitte 40 habe ich mir dann einen Traum erfüllt: ein | |
Philosophiestudium inklusive Promotion. | |
Was fasziniert Sie an der Philosophie? | |
Die Philosophie lebt vom Fragen: Warum? Wozu? Wo und wie? Sie lebt von der | |
Logik. Die Philosophie bemüht sich, ein gutes Leben für den Menschen zu | |
denken und zu finden. Auch in ihrer Interdisziplinarität bietet sie | |
unendlich viele Interpretationen und Konzepte an – und versucht den Streit | |
darüber zu kultivieren, die Auseinandersetzung der Argumente und die | |
Erfahrung, dass man stets in einem inneren und äußeren Dialog stehen muss. | |
Gestaltete sich der Schreibprozess von „Fremd“ auch als ein solcher Dialog? | |
Dieser Text ist das Ergebnis eines ganzen Lebens – von Gefühlen wie auch | |
von Reflexionen. Es ist ein persönliches Buch. Und ein sehr politisches. | |
Das im Buch immer wieder genannte Kind ist autobiografisch. Es steht jedoch | |
gleichzeitig für viele mit ähnlichen Erfahrungen: Diskriminierung und | |
Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft, das „Anderssein“. Zudem die | |
Verletzungen und Wunden der Eltern. In meinem Fall durch den Holocaust, in | |
anderen Familien ist es die Erfahrung der Flucht und die plötzliche | |
Veränderung des Status der Eltern. | |
Sehen Sie weitere politische Dimensionen in „Fremd“? | |
Den Gedanken, dass wir als Fremde auf diese Welt kommen und in dieser Welt | |
fremd bleiben, dass die meisten Bemühungen, Teil einer Gruppe zu sein – | |
eines Vereins, einer Partei; selbst die Bildung einer Familie – aber darauf | |
abzielen, dieses Fremdsein loszuwerden. Wie viel Ich musst du aufgeben, um | |
in ein Wir hineinzukommen? Ist die Eintrittskarte nicht häufig viel zu | |
teuer? Ich glaube, auch Menschen ohne Rassismuserfahrungen haben in ihren | |
Leben kennengelernt, dass diese Bereitschaft zum Opportunismus, die | |
Bereitschaft zum Mitmachen, uns nicht ins Glück, sondern sehr oft ins | |
Unglück treibt. Auch das macht mein Buch zu einem politischen Text. Das | |
gesellschaftspolitische Wir übt viel Macht aus. | |
Sie berichten sehr offen und direkt über Erfahrungen von Schwäche und mit | |
Mobbing, über Selbstverletzungen, Selbstmordwerkzeug und über Therapien. | |
Wie gestaltete sich für Sie der Schreibprozess? | |
Zunächst wollte ich persönliche Reflexionen mit Sachbuchelementen | |
verbinden. Das funktionierte allerdings überhaupt nicht. Die lyrische Form | |
war ursprünglich nicht geplant. Mit der Zeit aber wurde der Text immer | |
nackter, knochiger. Nach der Fertigstellung war ich erschrocken und | |
erschöpft. Für mich ist das Buch ein Spiegel. Ich schaue mich an. Ich muss | |
zugeben: Ich habe große Angst vor der Veröffentlichung. | |
Angst – inwiefern? | |
Ich habe große Angst vor der Kritik und vor dem Umgang mit dem Text. Vor | |
allem hatte ich stets die Angst, dass der Text nie atmen kann, weil alle | |
denken: Der Autor ist doch Michel Friedman. Deswegen hatte ich eine Zeit | |
lang über eine Veröffentlichung unter Pseudonym nachgedacht. Oder ob ich es | |
überhaupt publizieren sollte. Irgendwann wurde mir aber klar: Wenn ich aus | |
Angst dieses Buch nicht publizierte, dann würde ich meine Stimme verlieren. | |
Jetzt ist das Buch da. | |
Herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung! | |
Danke – aber ich habe immer noch Angst. Bin immer noch aufgeregt und | |
aufgewühlt. Daran hat sich wirklich nichts geändert. | |
Wird sich das irgendwann einmal ändern? | |
Bei mir wird sich das nie ändern. | |
In Ihrem Buch schildern Sie nicht nur Ihre Einwanderung nach Deutschland | |
aus Paris, wo Sie und Ihre Familie nach der Shoah als staatenlose | |
Flüchtlinge aus Polen lebten. Es gibt auch eine Passage zur, wie Sie es | |
formulieren, „Blitzentscheidung“, im letzten Moment doch nicht nach den USA | |
zu gehen. Was hat Sie damals zum Bleiben veranlasst? | |
Meine Mutter fragte: Willst du uns umbringen? Meine Aufgabe war, für das | |
Glück meiner Eltern zu sorgen; dafür, dass sie leben wollten, einen Sinn | |
empfanden. Die Mahnung meiner Mutter, das nicht zu vergessen, weckte damit | |
in mir eine maximale Angst. Ich war damals nicht in der Lage, mich ihnen | |
entgegenzustellen und meine Option New York einzulösen. Unsere Verstrickung | |
ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die meisten | |
Holocaustüberlebenden nur über eine neue Familienbildung die Legitimierung | |
herleiten konnten, dass sie – und nicht ihre Brüder und Schwestern – | |
überlebt hatten. | |
Wie blicken Sie in die politische Zukunft? | |
Meine Lebensangst ist gekoppelt an ein nie gewachsenes Urvertrauen: Ich bin | |
auf dem Friedhof aufgewachsen, bei uns wurde geweint, bei uns wurde der Tod | |
gesehen – das vorangestellt. Vor der politischen Zukunft habe ich keine | |
Angst, erst recht keine Furcht. Es gibt Probleme. Wir können sie lösen. | |
Wenn wir wollen. Es hat ja nie gestimmt, dass man nicht die Welt ändern | |
kann. Ich bin Kind von Eltern, die von Oskar Schindler gerettet wurden. Ein | |
Mensch hat damals für Tausende Menschen Tausende Welten verändert und damit | |
auch für mich. Das motiviert mich. Bei allen Rückschlägen, bei allen | |
Schwächen und bei aller Heuchelei und Doppelmoral: Ich glaube daran, dass | |
wir in der Lage sind, die meisten Probleme, auch strukturelle, zu | |
bewältigen; dass wir es – im Konjunktiv – könnten. Meine Vision der Welt | |
geht vom Einzelnen aus, der sich mit anderen Einzelnen zusammentut unter | |
der Perspektive: Wir haben etwas vor, etwas Anderes. Und das in der | |
Demokratie. | |
Das Einen-Anfang-Machen, das Zusammenschließen der Einzelnen erinnert mich | |
an [2][Hannah Arendts] Konzeption des Politischen als Freiheit … | |
… und Hannah Arendt hat recht! Ich bin aber auch großer Anhänger von | |
Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir. Ihr Buch über das | |
Sterben [„Alle Menschen sind sterblich“, 1946; Anm. d. Red.] halte ich für | |
wegweisend. Obwohl ich an den Menschen und seine Möglichkeiten glaube, weiß | |
ich: Wir sind Natur, und wir überschätzen uns, sind narzisstisch in unserem | |
Spiegelbild. Unser Bewusstsein kann Berge versetzen, die Berge aber auch | |
zur Gefahr werden lassen. Ich verstehe die Traurigkeit, die | |
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Sie stecken auch in mir, sie umfassen | |
einen großen Teil meiner Biografie. Zu einem größeren Teil, der nur minimal | |
größer ist, glaube ich jedoch an das Konstruktive. | |
4 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://michelfriedman.info/ | |
[2] /Neuauflage-einer-Studie-von-Hannah-Arendt/!5767218 | |
## AUTOREN | |
Till Schmidt | |
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