# taz.de -- Michel Friedman am Berliner Ensemble: Der Schlüssel zum Wir | |
> Sibel Kekilli feiert ihr Bühnendebüt am Berliner Ensemble. In „Fremd“ | |
> philosophiert Michel Friedman über Fragen von Zugehörigkeit, Identität | |
> und Schuld. | |
Bild: „Fremd“, das Theaterdebüt der Schauspielerin Sibel Kekili | |
Der schwarze Vorhang hinter der Bühne bewegt sich, eine Frau steigt hinter | |
ihm hervor, schwarz gekleidet, dezent geschminkt, bis auf den roten | |
Lippenstift, der als einziger Farbtupfer hervorsticht. Applaus, dann setzt | |
[1][Sibel Kekilli] sich auf einen Stuhl, vor ihr ein Tisch, ein Manuskript | |
und eine verspiegelte Scheibe, die den Blick auf sie freigibt, sobald ein | |
kleines Licht angeht. | |
Es ist ein besonderer Abend, merkt man schon beim Betreten vom Neuen Haus | |
des Berliner Ensembles. Nicht nur, weil vor einem | |
[2][Kulturstaatsministerin Claudia Roth], der [3][Kultursenator Berlins Joe | |
Chialo], Friedenspreisträgerin Carolin Emcke und der [4][Pianist Igor | |
Levit] die Treppen emporsteigen. Es ist auch das Bühnendebüt Kekillis, die | |
durch Filme wie Fatih Akins „Gegen die Wand“ nationale und durch ihr | |
Mitwirken in der Serie „Game of Thrones“ internationale Bekanntheit | |
erlangte. | |
An diesem Abend liest die Tochter türkischer EinwanderInnen aus „Fremd“, | |
einem sehr poetischen wie persönlichen [5][Buch des Autors Michel | |
Friedman.] Auch er ist anwesend sowie zwei Personenschützer – noch so eine | |
Besonderheit an diesem Abend, denn Friedman ist Kind von | |
Holocaustüberlebenden aus Polen, er ist Jude, war lange staatenlos, wuchs | |
teilweise in Deutschland auf – „dem Land der Mörder“. Mit 18 Jahren | |
eingebürgert, erhielt er endlich „den Schlüssel zum Wir“. Oder? | |
Ein Abend über die Fremde und das Fremdsein sei die von Max Lindemann | |
inszenierte Lesung, heißt es zu Beginn: All jenen gewidmet, „die irgendwo | |
im Nirgendwo leben“. Gemeint sind damit erst mal alle, die von der | |
Mehrheitsgesellschaft, in der sie leben nicht (vollends) anerkannt werden, | |
egal wie assimiliert, integriert, emanzipiert sie sind: „Ich gebe mich auf | |
und bleibe trotzdem Fremder“, liest Kekilli. | |
## Angst vor Ausgrenzung, vor dem Hass | |
Auf eine Leinwand im Hintergrund wird ihr Gesicht projiziert, das schafft | |
Abstand und Nähe zugleich. Dann viermal Kekilli, wie sie suchend | |
umherblickt: „Kein Ich ist nur ein Ich“, und doch ist da die „Sehnsucht, | |
mit meinem Ich übereinzustimmen“. | |
Friedmans Text ist nicht nur sehr persönlich, er stellt auch philosophische | |
Fragen zu Zugehörigkeit, Identität und Schuld. Und politisch ist er, das | |
zeigen die Aufnahmen auf der Bühnenwand, die sich mit Kekillis Antlitz | |
abwechseln: fast nostalgische Bilder der BRD in ihrer wirtschaftlichen | |
Hochphase. Dann ein Cut und Bilder von Steine schmeißenden Menschen | |
draußen, verängstigten Menschen drinnen, [6][deren Unterkunft später zu | |
brennen beginnt.] | |
Angst bestimmt Friedmans Aufwachsen in Deutschland; Angst vor Ausgrenzung, | |
vor dem Hass, der ihm immer wieder begegnet, aber auch eine Angst, die | |
seine Eltern ein Leben lang begleitet und die ihn an sie bindet. „Sie | |
können dir alles nehmen, nur nicht das, was du im Kopf hast“, sagt der | |
Vater. Also lernt Friedman, bildet sich, will die Eltern unbedingt | |
glücklich machen – „Kindheitsberuf: Lebensübersetzer“ – und versucht … | |
wieder, „den Begrenzten und Begrenzenden nicht das letzte Wort zu geben“. | |
Kekilli nimmt sich zurück, nicht nur beim finalen Applaus, der lange | |
andauert. Und doch merkt man ihrem Auftritt an, dass sich hier zwei | |
verwandte Seelen gefunden haben, die einen großen Schmerz teilen. | |
27 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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