# taz.de -- „Hundekot-Attacke“ am Theaterhaus Jena: Wer hat Schiss vorm Kri… | |
> Pseudodokumentarisches Stück am Theaterhaus Jena: „Die Hundekot-Attacke“ | |
> verspottet die Sensationsgier von Dramaturgie, Kritik und Publikum. | |
Bild: Auf echte (Hunde-)Exkremente wurde am Theater Jena zum Glück verzichtet | |
Stimmt es, was Leon Pfannenmüller sagt, wird er diese Kritik nie lesen. Der | |
Schauspieler möchte sich schützen. Denn Kritiken können Künstlerseelen | |
beschädigen. So auch die Pfannenmüllers: Als er 2013 in München seine erste | |
Hauptrolle spielte, wurde er von der Kritik verrissen. Für „Die | |
Hundekot-Attacke“ hat er die Rezensionen wieder ausgepackt und sogar seinen | |
Peiniger vom Münchner Merkur eingeladen, um die verletzenden Passagen | |
vorzulesen. | |
Am Freitag feierte „Die Hundekot-Attacke“ in Jena Premiere, eine auf | |
wahren Begebenheiten basierende Stückentwicklung für sechs Personen und | |
einen Dackel. Regie führte Walter Bart vom niederländischen Kollektiv | |
Wunderbaum, das bis 2022 das experimentierfreudige Theaterhaus leitete. | |
Der aufsehenerregende Aufhänger ist der Übergriff eines renommierten | |
Choreografen, der einer FAZ-Kritikerin Anfang dieses Jahres im Foyer der | |
Staatsoper Hannover vor lauter Kränkung [1][den Kot seines Köters] ins | |
Gesicht schmierte. | |
Anders als bei der [2][abject art eines Günter Brus], der in den Hörsaal | |
kackte, oder eines [3][Piero Manzoni], der seine Künstlerscheiße in Dosen | |
abpackte und zum Goldpreis verkaufte, war das beileibe kein Kunstgriff. Und | |
auch in Jena greift niemand explizit nach Exkrementen. Die Kacke-Attacke | |
ist hier nur der Lockstoff für eine erstaunlich glaubwürdige | |
Stückentwicklung im Stück. Eine Art mise en abyme, die die gescheiterten | |
Proben zur geplanten Inszenierung auf die Bühne spiegelt. | |
## Eher prozess- als ergebnisorientiert | |
Alle Erwartungen werden lustvoll unterlaufen: Zunächst werden E-Mails | |
vorgelesen, auf der kollektiven Suche nach einem Abschiedsstück. Wie eine | |
Leseprobe wirkt die schlichte Inszenierung: eher prozess- als | |
ergebnisorientiert. Zwischendurch Urlaubsfotos aus den Theaterferien, | |
inklusive Strandleiber und Kinderpopos. Dann wieder das Verlesen von Mails. | |
Schauspielerin Pina an Anna: „Trau dich doch auch mal, einen Fehler zu | |
machen, dazu sind die Proben da.“ | |
Ausgestellt wird ein Prozess, der Ängste auslöst, Konflikte im Ensemble | |
zutage bringt und Machtstrukturen sichtbar macht. Zur Premiere kommt | |
schließlich eine vermeintliche Notlösung, die mit den Grenzen spielt | |
zwischen Rolle und SpielerIn, zwischen Fakt und Fiktion. | |
Das Bühnenkollektiv streitet, ob es möglich sei, den Angriff nicht zu | |
reproduzieren noch auf Kosten der Betroffenen auszuschlachten und zugleich | |
selbst kulturelles Kapital daraus zu schlagen, sprich: die fäkale | |
Sensationslust mancher Chefdramaturgen und Kritikerinnen produktiv | |
umzulenken. | |
Höchste Zeit, wenn Intendantinnen die Kritik als „Scheiße am Ärmel der | |
Kunst“ bezeichnen und die Feuilletons ihre Kolumnen über die Verrohung im | |
Umgang von Kultur und Kritik ausschließlich mit dem [4][lässig mit | |
Sonnenbrille in Foyers stehenden Choreografen] bebildern. Diesen Geniekult, | |
der mit Faszination auf Täter blickt, kritisiert man hier. | |
Wie es so ist, wenn das Theater sich selbst in den Blick nimmt, steht bald | |
alles auf dem Spiel. Die eine wollte dem misogynen Übergriff eines | |
„eingesessenen Vollidioten“ sowieso keine Aufmerksamkeit schenken. Die | |
nächste meldet sich wegen lukrativer „Tatort“-Dreharbeiten ab. Ein Dritter | |
sucht um jeden Preis den Bezug zum Lokalen. Letztlich geht es um | |
Machtstrukturen und deren Missbrauch, beides universell problematisch, | |
gewiss auch an einem kollektiv geleiteten Theater wie Jena. | |
## Kot-Wort als Köder | |
Kurz vor der inszenierten Premiere stellt eine Spielerin ihre KollegInnen | |
vor die Wahl: „Entweder weiter Theater machen oder wir gehen raus in die | |
Welt […] und erschaffen eine reale Utopie anstelle von zynischem | |
Realismus.“ Diese Meta-Inszenierung macht zum Glück beides. | |
Sie überwindet die Wirklichkeit mit einfachsten Theatermitteln: mit dem | |
Ausstellen von Inszenierungsvorgängen, mit Action-Body-Painting und herben | |
Seitenhieben: „Der Regisseur saß betrunken mit einer Bierflasche im | |
Parkett, hat uns angebrüllt und wie Marionetten stundenlang durch ein | |
kaltes Wasserbecken schlittern lassen, weil er keine Ideen mehr hatte.“ | |
Indem diese düsteren Zustände in den Theatern ausführlich reflektiert | |
werden, spiegeln sich die Zustände der Welt auf der oft so moralinsauren | |
Bühne. | |
Ausgerechnet mit einer Inszenierung, die die Mechanismen des | |
skandalfreudigen Theater- und Kritikbetriebs auf die Schippe nimmt, hat das | |
Ensemble dank des Kot-Wortes als Köder die Aufmerksamkeit, die es verdient. | |
Allen voran Nikita Buldyrski, der das diskurslastige Leseproben-Setting | |
plötzlich mit einem [5][Deutschrap-Part] auflöst, auf den auch Kool Savas | |
stolz wäre. | |
Ein kathartisches Hohelied auf die theatertreue Lokalredaktion der | |
Ostthüringer Zeitung, auf das Jenaer Publikum und letztlich auch auf die | |
Arbeit des Theaterhauses selbst. Was kann der Kritiker noch schreiben, wenn | |
die zu Rezensierenden ihm das Lob vorwegnehmen? Der Auftritt des Dackels | |
wurde aus Tierschutzgründen übrigens nicht genehmigt: Der Kritiker verlässt | |
das Theaterhaus unversehrt. | |
30 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Kornelius Luther | |
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