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# taz.de -- Performance-Duo Signa in Hamburg: Dunkle Tannen und klamme Luft
> „Das 13. Jahr“ des Performance-Duos Signa in Koproduktion mit dem
> Schauspielhaus Hamburg reaktiviert dunkle Erinnerungen durch
> Simulationen.
Bild: Irgendwie Puppe, irgendwie Mensch und ziemlich lost sind die Figuren in �…
Zum Abendessen gibt es Kartoffeln mit Jähzorn: Ich sitze auf einer
Resopal-Eckbank zwischen furnierten Küchenwänden im Neonlicht. Vor mir
steht eine tropfende Thermoskanne, dicht neben mir sitzt ein massiger Mann,
der hustet, würgt und unvermittelt brüllt. Hinter den kleinen Fenstern
huschen Schatten vorbei, von draußen dringt zusätzliches Unbehagen in den
vergilbten Raum: Wind pfeift, Krähen kreischen, ein Schaben, ein
Aufstöhnen, ein gellender Schrei.
Ich trage eine zu weite Lederhose, rutschende Wollsocken und einen grauen
kratzigen Pullover, ich schäle Kartoffeln und bin „brav“, so wie es Erwin
mir geraten hat. Ich bin zwölf Jahre alt, bin ein „Notkind“ und wurde –
gemeinsam mit drei anderen „Notkindern“– von dieser „Familie“ aufgeno…
Von Erwin (Arthur Köstler), Walter (Josef Ostendorf) und dessen Frau Herta,
die als lebensgroße Puppe aus dem Nebenzimmer aufheult. Ich bin in eine
extrem bedrückende Situation, in eine Simulation geraten, genauer: in die
Performance „Das 13. Jahr“ der österreichisch-dänischen [1][Theatergruppe
SIGNA], eine Koproduktion mit dem Schauspielhaus Hamburg.
Bespielt wird eine Lagerhalle auf dem ehemaligen Thyssenkrupp-Gelände, ein
lost place zwischen Bahngleisen und Sportplätzen. Angeblich, so wird
suggeriert, hätten die insgesamt 40 Teilnehmer*innen bei der Firma
„Lethe-Simulationswelten“ die Folge „Das 13. Jahr“ ausgewählt. „Leth…
der griechischen Mythologie ist das einer der Flüsse im Hades, der „Fluss
des Vergessens“ oder auch die „Daimona der Vergessenheit“. Habe ich mein
12-jähriges Ich nicht schon längst vergessen? Dieses undefinierte,
irritierte Ich zwischen Ponyhof und Pubertät, zwischen kindlicher Naivität
und erwachender Sexualität?
Zu spät. Während der kommenden Stunden sollen Erinnerungen an genau dieses
Ich reaktiviert werden, erklären fünf beamtengraue Simulationsleiter und
ein Video. Auf einer gemeinsamen Freizeit im „Hasenhof“ irgendwo in den
Bergen. Und weil SIGNA-Installationen nicht nur immersiv, sondern auch
höchst manipulativ sind, weil sie immer mitten ins Unbewusste hineinfassen
und szenisches Salz in wunde Punkte streuen, verliert der Bus, der die
Gruppe ins Ferienlager fahren soll, bald seinen Busfahrer, die Gruppe
bald ihre Orientierung und landet in einem österreichischen Bergdorf.
## Erzählung von Armut und Schuld
Zehn ärmliche, detailliert ausgestattete Häuser behaupten in einer etwa 400
Quadratmeter großen Halle diesen Ort. Außerdem gibt es einen Hügel, einen
kleinen See, Toiletten und ein „Spielehäuschen“. Drumherum: dunkle
Tannenkulisse, Nebel und diffuses Dämmerlicht (Bühne: Lorenz Vetter, Signa
Köstler und Tristan Kold). Ganz egal, welche Tageszeit über die
Lautsprecher kommuniziert wird, die „Luft ist trüb und klamm“. In den
winzigen Häusern wird von Armut erzählt und von Schuld.
Von Gewalt in der Familie und von sexuellem Missbrauch. Irrsinnig organisch
fügen sich sieben Darsteller*innen aus dem Schauspielhaus-Ensemble –
und das ist erstmalig – in die seltsame SIGNA-Welt ein. Sie agieren
übergriffig, sind faszinierend unberechenbar und unheimlich vereinnahmend.
Als teilnehmende*r Zuschauer*in gerät man hinein in die sozialen
Konflikte wie in einen Sog, hält Streitigkeiten aus, versucht Untröstliche
zu trösten, manch mystische Geschichte zu verstehen und größere Gewalttaten
zu verhindern. Die Erfahrungen sind unterschiedlich: Während die eine
heimlich im Spielehäuschen raucht und erste Küsse übt, sitzt ein anderer
mit verzweifelt weinenden Eltern am Küchentisch, wird wieder ein anderer
vom Blick der herumstreunenden, hellsehenden Hausiererin (Signa Köstler)
gefangen.
„Jetzt ist es Abend, kein Entkommen“, tönt es einmal durch die
Lautsprecher. Wer zu fliehen versucht, der erkranke am „Nebelfieber“ mit
baldigen Lähmungserscheinungen. Davon erzählen die lebensgroßen
Stoffpuppen, unter deren Reglosigkeit manchmal leibhaftige Spieler*innen
zucken.
## Klare Exit-Strategie
Doch SIGNA hat erstmalig eine klare Exit-Strategie eingebaut: Zum einen
gibt es jene Simulationsleiter, die das Spiel immer wieder unterbrechen und
nach Schmerzgrenzen fragen. Zum anderen wurde an jeder Haustür ein Notknopf
montiert, der bei „Unwohlsein oder Übelkeit“ betätigt werden kann.
„Nicht spielen, sondern spüren“, wird von den Teilnehmer*innen
eindringlich gefordert. Ob das gelingt, ob das 12-jährige Ich in diesen
fünfeinhalb faszinierenden und unruhigen Stunden tatsächlich reaktiviert
werden kann, ist eine ziemlich persönliche Angelegenheit und auch ein wenig
fraglich.
Tatsächlich scheinen das hohe Interaktions-und-Inszenierungsniveau, der
Wodka-Konsum und die eindrucksvolle, [2][komplexe SIGNA-Welt] mit dem
durchschnittlichen Reflexionsvermögen eines/einer Heranwachsenden zu
kollidieren. Als 12-Jährige*r wäre man – also ich zumindest – in einer
solchen Situation meist von lähmendem Heimweh geplagt. Denn von Armut,
Gewalt und Heimatlosigkeit, von Verzweiflung, Verloren- und Fremdsein
erzählt der Abend schmerzhaft nah.
25 Oct 2023
## LINKS
[1] /Kollektiv-Signa-in-Hamburg/!5814119
[2] /Salzburger-Festspiele/!5113678
## AUTOREN
Katrin Ullmann
## TAGS
Theater
Performance
Psychologie
Kindheit
Theater
Ballett
Schauspiel
Theater
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