# taz.de -- Premiere an der Volksbühne Berlin: Im Loop der Sinnfragen | |
> Die Hyperlink-Dramaturgie von Susanne Kennedy: Die Regisseurin serviert | |
> an der Volksbühne ein verschwurbeltes Stück über eine Sektenführerin. | |
Bild: Eine Szene wie aus der Bibel: Jessica wäscht einem Jünger die Füße | |
Jessica spricht: „Do not be astonished of me telling you: you must all be | |
born again.“ („Seid nicht erstaunt, wenn ich euch sage: Ihr müsst alle | |
wiedergeboren werden.“) In Feinripp-Unterwäsche und Kopftuch hält sie ihre | |
Reden (wie das ganze Stück auf Englisch) an die Handvoll Jüngerinnen und | |
Jünger, die ihr in die Wüste gefolgt ist. Eine abgehalfterte Sekte, deren | |
Mitglieder wie aussortierte Plastik-Barbies aussehen: blondsträhnige | |
Langhaarperücken, die Jeans fallen zerrissen von ihren Beinen. | |
Jessica ist eine Art weiblicher Jesus, die Bibelworte in ihre Reden | |
einstreut und das letzte Abendmahl bis zum Verrat durch ihren Partner Jude | |
durchspielt. Sie fungiert aber auch als Medium, verdammt zum ewigen | |
Kreislauf von Sterben und Wiederauferstehen, stecken geblieben im Loop der | |
Sinnfragen. | |
Als Sektenführerin hat sie ihre vielfache Auferstehung von den Toten | |
natürlich kommerzialisiert und im Death Valley die Firma „Anamnesis“ | |
gegründet. Ein Begriff aus der griechischen Philosophie: Die Technologie | |
„Live Review“ soll das tun, was sich schon Platon vorgestellt hat – | |
Menschen mit ihren vergessenen Erinnerungen, mit dem ihnen eingeborenen | |
Wissen in Kontakt bringen. | |
## Blonde Klone, sie weinen bitterlich | |
Dafür sitzen die blonden Klone vor einer Leinwand, auf der sich aus | |
animierten Spiralen Bilder formen, und weinen bitterlich. Beziehungsweise: | |
Sie lassen ihren Oberkörper erzittern – das Weinen dringt übers Playback zu | |
uns. Die Stimmen kommen, wie immer in Kennedys Verfremdungsuniversum, vom | |
Band. | |
Auch diesmal hat Markus Selg eine grelle Drehbühne in Computerspielästhetik | |
entworfen. Zerfallene Säulen stehen in dieser Wüste herum. Die animierten | |
psychedelischen Bilder, die Selg auf sämtliche Bühnenwände wirft, sollen | |
nach Cyberspace ausschauen und die Frage stellen: In welcher Realität | |
befinden wir uns? Und Kennedy liefert die, wie auf der Homepage der | |
Volksbühne zu lesen ist, „Hyperlink-Dramaturgie“ des Abends – ein | |
herrliches Wort dafür, Schnipsel aus dem Internet zu fischen und | |
aneinanderzureihen. Das merken wir uns. | |
Alles wie gehabt also, zwei zerdehnte Stunden lang zusammengepanschte | |
Sinnfragen, zwischendurch Brüche zwischen Realität und Fiktion: „Brauchen | |
wir diese Szene wirklich?“ Es ist das alte Lied von Authentizität und Fake, | |
das Kennedy anstimmt, von wahrer und imaginierter Transzendenz. In wie | |
vielen Welten leben wir? | |
In ihren letzten Arbeiten hat sich die Regisseurin ganz unverhohlen dem | |
esoterischen Geraune hingegeben, das sie ihren Figuren in den Mund legt. | |
Diesmal führt sie zumindest eine kritische „Interviewerin“ ein, die | |
Jessicas Geschäftsmodell hinterfragt, Propaganda und Verschwörung wittert. | |
Die quasireligiöse Berieselung behält allerdings die Oberhand und wirkt vor | |
allem: einschläfernd. | |
## Deformierte Seelen | |
Wie anders war das, als [1][Kennedy 2014 mit „Fegefeuer in Ingolstadt“ zum | |
Theatertreffen eingeladen war]! Auch in diesem kritischen bayerischen | |
Volksstück von Marieluise Fleißer bewegen sich die Figuren letztlich in | |
zwei Welten: im vorgetäuschten christlichen Dorfidyll und in der bigotten, | |
brutalen Realität, mit all ihrer Unmenschlichkeit. Schon hier hat Kennedy | |
in einem von religiösen Werten geprägten Setting die Authentizitätsfrage | |
gestellt – und ausgestellt, anhand der Sprache, die den Figuren abhanden- | |
und daher vom Band kommt. Kennedy verlegte das Stück in einen Albtraum-Raum | |
voller menschlicher Urängste. Man sah geknechtete, deformierte Seelen, die | |
auf Erlösung hoffen, die vielleicht sogar erst noch zu Menschen werden | |
müssen. Unglaublich verstörend war das, wie sich die wächsernen Figuren zu | |
immer neuen statischen Installationen formierten. | |
Doch seitdem Kennedy ihre „Stücke“ selbst „schreibt“, fehlt ihrem Thea… | |
die Fallhöhe und die Reibungsfläche. Intellektuell sind diese | |
zusammengeklebten Internetfunde eine Zumutung, und Kennedys Faszination für | |
Posthumanismus, Esoterik und pseudotherapeutische Selbstbespiegelung ist | |
kaum noch nachvollziehbar. | |
Für die Beobachterin ist dagegen faszinierend, wie geschmeidig sich | |
Kennedys Arbeiten in die unterschiedlichsten Theaterausrichtungen einfügen. | |
Dass eine Regisseurin sowohl für den [2][Kurator Chris Dercon] als en vogue | |
gilt, der Kennedy damals an die Volksbühne geholt hat, als auch für seinen | |
Counterpart René Pollesch, der heute die Volksbühne leitet, klingt wie pure | |
Ironie. | |
Zuletzt geht an diesem Abend die digitale Sonne auf und Jessica schwebt | |
mitsamt Altar gen Himmel. Dazu erklingt ausgerechnet Bob Dylans kryptische | |
zweizeilige Ratlosigkeitshymne, die noch immer auf Entschlüsselung wartet: | |
„All the tired horses in the sun, how am I supposed to get any riding | |
done?“ Was das alles zu bedeuten hat? Vermutlich: nichts. Jedenfalls: | |
Halleluja! | |
28 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Behrendt | |
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