# taz.de -- Berliner Volksbühne: Eine Müdigkeitsgesellschaft | |
> Klimakrise, Pandemie, Krieg: Fabian Hinrichs und René Pollesch gelingt | |
> mit „Geht es dir gut?“ der erste sehenswerte Abend der neuen Volksbühne. | |
Bild: Fabian Hinrichs sentimentale Erschöpfungslitanei klingt schrecklich selb… | |
Die leere, weite Bühne. An der Rampe nichts als ein Klavier, auf dem Fabian | |
Hinrichs ein paar Akkorde spielt, während der Chor um ihn größer wird. Die | |
Männer und Frauen von den African Voices und den Bulgarian Voices Berlin | |
stecken in sandfarbenen Outfits und erinnern fast an eine Soldaten-Armee, | |
würden sie keine Plüsch-Ohrenschützer tragen. Den Auftakt macht thematisch | |
jedoch nicht der Krieg, sondern die Pandemie. | |
„Wir waren weg“, konstatiert der Chor, während Hinrichs zu schweren | |
Moll-Klängen widerspricht: „Nein, wir waren im Homeoffice.“ Jetzt sind die | |
Masken dran. Hinrichs schreit seine imaginäre Geliebte an, während die Töne | |
anschwellen: „Gib deine Maske her! Die ist vier Wochen alt! Ich will dein | |
Lächeln sehen!“ | |
Dann wird auch der Krieg zum Thema dieses Klagegesangs über eine | |
Müdigkeitsgesellschaft, die der Klimawandel, die Pandemie und nun Putins | |
Angriff fertigmachen. „Pandemie und Krieg und 1,5 Grad und 1,5 Meter und 2 | |
Mal 1,5 Atomkoffer. Ich möchte nur noch besoffen sein.“ | |
Hinrichs sentimentale Erschöpfungslitanei klingt schrecklich selbstbezogen, | |
mit Absicht: Das sind wir – diese Menschen, die noch vor vier Wochen über | |
Einsamkeit und Depression angesichts der Coronakrise geklagt haben und die | |
jetzt im warmen Wohnzimmer an Kriegsbildern „leiden“ und die Welt nicht | |
mehr zu fassen kriegen. | |
## Besseres Leben auf einem anderen Planeten | |
Mit der gigantischen silberfarbenen Rakete, die das Jammern unterbricht und | |
unter großem Getöse und Nebel vom Himmel fährt (Bühne: Kathrin Brack), | |
schimmert Hoffnung auf: Auf einem anderen Planeten kann es ja nur besser | |
sein. Der Chor steigt ein – doch bis Hinrichs mit dem Taxi, das ebenfalls | |
auf die Bühne gerauscht kommt, zu Hause seine sieben Sachen gepackt hat, | |
ist die Rakete ohne ihn abgezischt. | |
Was bleibt? Der Blick auf die jungen Leute. Aus dem Bühnen-Taxi steigt eine | |
Jungs-Gang, vor der man nachts Reißaus nehmen würde. Aber statt dem | |
schmalen Hinrichs eins drauf zu geben, starten die Tänzer von der Flying | |
Steps Academy atemberaubende Breakdance-Nummern, die den Saal zu | |
Szenen-Applaus mitreißen. So schnell wie sie gekommen sind, verschwinden | |
die Jungs allerdings wieder. So richtig taugen auch sie nicht, um den | |
Glauben an die Zukunft zu retten. | |
Nach der unvermittelten Tanzeinlage krabbelt Hinrichs in eine große | |
Walnussschalenhälfte, Hinrichs in a nutshell sozusagen, und weiter geht es | |
mit dem Gejammer: existenzielle Einsamkeit, eine verlorene Liebe, 1,5 Grad | |
Erderwärmung und 1,5 Meter Abstand – die Zahlen, die unser Leben prägen: | |
„Ich meine, was soll eigentlich noch kommen? Es kann doch eigentlich nur | |
noch ein Meteorit kommen. Oder Außerirdische. Es könnte doch höchstens noch | |
Gott persönlich zu uns sprechen.“ | |
In den besten Momenten sagen diese emotionalen, mit großer Verletzlichkeit | |
gesprochenen Suaden bei dieser Pollesch-Hinrichs-Arbeit viel über unseren | |
Gesellschaftszustand und Gefühlshaushalt aus. Für die Vereinsamung im | |
Lockdown, unsere asymmetrischen Gesichter hinter der Maske finden die | |
Theatermacher wunderschöne Sätze. | |
## Nix mit Zeitenwende | |
Doch man merkt dem Abend an, dass er ursprünglich die Pandemie und den | |
Klimawandel zum Grundthema hatte – die hineingewerkelten Aktualisierungen | |
im Hinblick auf Putin, der zwischendurch im Foto eingeblendet wird, wollen | |
sich nicht so recht ins Requiem der Privilegierten einfügen. | |
Lässt sich der Krieg so leicht einflechten in den allgemeinen | |
Erschöpfungszustand? Schlicht ein Ding „on top“, wie Hinrichs sagt? Führt | |
auch dieser Krieg nur zu kurzzeitigen Solidaritätswellen, die im Narzissmus | |
der westlichen Welt bald abebben? Von der viel zitierten „Zeitenwende“ ist | |
hier nichts zu spüren, gar nichts. Vielleicht kommt dieser Abend fünf | |
Wochen zu spät. | |
Wenn Hinrichs zum Schluss das große Ganze irgendwie in den Blick nimmt, | |
wirkt das wie eine kleine Erlösung: „Was ich mir wünsche? […] Vielleicht | |
das: dass es in 200 Jahren hier unten noch etwas gibt und nicht nur nichts. | |
Uns beide gibt es dann nicht mehr, aber es ist ja nicht unbedingt und | |
automatisch nichts, nur weil wir beide nicht mehr sind. Weißt du, eine | |
Rakete, ein Krieg, der mir sagt, ich kann hier nicht mehr nur über uns | |
beide sprechen.“ | |
Trotz mancher Einwände: Mit „Geht es dir gut?“ hat die Volksbühne eine | |
Inszenierung vorgelegt, die einen wirklich angeht. Das war bislang unter | |
der [1][Intendanz von René Pollesch] mitnichten so. | |
## Pollesch, Pollesch und nochmals Pollesch | |
Da gab es etwa den quasireligiösen [2][Sektenguruabend „Jessica – An | |
Incarnation“ von Susanne Kennedy], die schon seit Polleschs Vor-Vorgänger | |
Chris Dercon am Haus arbeitet. [3][Kornél Mundruczós] flache | |
Horror-Groteske „MiniMe“. [4][Das Debüt „Letzter Stand I: allos autos“] | |
zweier junger Regisseurinnen, das ein verantwortungsbewusster Intendant zum | |
Schutz der Künstlerinnen hätte verhindern müssen. Darüber hinaus: Pollesch, | |
Pollesch und nochmals Pollesch. | |
Es kam in Berlin gar nicht gut an, dass der neue Intendant lieber seine | |
eigenen Inszenierungen zeigt, statt neue Künstler:innen zu präsentieren. | |
Auch nicht, dass er parallel am Deutschen Theater in derselben Stadt | |
inszeniert – als hätte er sonst nichts zu tun. | |
Die Kommunikation hat er darüber vernachlässigt. Es hätte nicht geschadet, | |
hätte man darum gewusst, dass seine ersten Inszenierungen einer Trilogie | |
entsprechen sollten, bei der sich alle Ensemblemitglieder vorstellen. | |
Wer kann das verstehen, wenn nicht mal bekannt ist, wer zum Ensemble | |
gehört? Mit seinem Job als Intendant scheint Pollesch nach wie vor zu | |
ringen. Als Autor und Regisseur hat er nun endlich einen Abend inszeniert, | |
der den Besuch der Volksbühne lohnt. | |
27 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Behrendt | |
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fliegen und Menschen auch. Sieht alles sehr nach Pollesch aus. |