# taz.de -- Neustart an der Berliner Volksbühne: Heimkehr unter den Baldachin | |
> René Pollesch beginnt seine Intendanz mit einer lustigen Unterforderung. | |
> Ob er die Volksbühne nach Dercon und #MeToo wiederbelebt? Offen. | |
Bild: Martin Wuttke mit einem Skelett (dem Geist der Vergangenheit?) auf dem R�… | |
Die jungen Leute und die alten Leute, jetzt stehen sie wieder in lockeren | |
Gruppen vor der Berliner Volksbühne und warten auf die erste Uraufführung | |
von René Pollesch in seiner neuen Rolle als Intendant. Zumindest sind die | |
Fans dieses Hauses eine gute Mischung der Generationen. | |
Ein Kinderchor singt neben einem Zirkuszelt zur freundlichen Rahmung des | |
Abends. Querdenker tauchen mit Megafon auf und protestieren gegen die | |
Angepasstheit der Volksbühne. „Liberale. Linke. So was. Ihr seid geimpft. | |
Schon immer“, steht auf ihrem Flugblatt, das kaum einer liest. | |
Auf der Bühne wird später Kathrin Angerer, die allein schon für ihre | |
Rückkehr an die Volksbühne an diesem Abend geliebt wird, laut denken. „Aber | |
irgendetwas ist dran an dem Jung-und-Alt-Thema“. Die jungen Leute fallen | |
ihr auf, sitzen da, auf müde geschminkt, mit grauen Haaren auf der Wiese, | |
„als wären die großen Werke an den Teenagern hängengeblieben“. Während … | |
„immer versuche, jung zu bleiben“. | |
Das ist eine nette Pointe im Denkungszusammenhang dieses Stücks, „Aufstieg | |
und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“. Auch Martin Wuttke | |
zieht einmal die Generationenkarte als 97-jähriger Schauspieler des alten | |
Tolstoi, vor dem eine Delegation der Jugend sich beklagt, warum er ihre | |
Revolution nicht teile. | |
Und er antwortet, dass er vor allem die jungen Leute, die nicht sprechen | |
können, liebe …, aber da fallen ihm die Schauspielerinnen ins Wort, nur | |
nicht „ich liebe …“ sagen, damit mache er sie zum Objekt. Das L-Wort auf | |
die Rote Liste, man denke an den Streit um das [1][Gomringer-Gedicht an der | |
Alice-Salomon-Hochschule 2018]. Eigentlich zwei schöne Anläufe, um den Riss | |
zwischen einem in die Jahre gekommenen, irgendwie linken Selbstverständnis | |
und der Generation Fridays for Future und von jungen Feministinnen in den | |
Blick zu nehmen, aber da will das Stück gar nicht weiter hin. | |
## Eine kollektive Intendanz | |
[2][Kathrin Angerer und Martin Wuttke], die mit Susanne Bredehöft und | |
Margarita Breitkreiz die Uraufführung bestreiten, standen schon zu Frank | |
Castorfs Zeiten für den Ruhm der Berliner Volksbühne als ein Haus der zu | |
allem bereiten Spieler:innen. Sie sind nicht nur auf diese Bühne | |
zurückgekehrt, sondern werden von Pollesch auch als Mitglieder seiner | |
kollektiven Intendanz genannt. | |
Damit will er markieren, die Autonomie und die Kreativität der vielen an | |
jedem Theaterabend beteiligten Künstler:innen nicht der Autorität des | |
Regisseurs zu unterstellen. Das Haus soll von der Lust an Gemeinsamkeit | |
getragen werden. | |
Ein Wunsch, der heilsam klingt, nach den letzten fünf quälenden Jahren, in | |
denen die Volksbühne zunächst von [3][Chris Dercon] geleitet wurde, dem aus | |
dem Haus und aus vielen Ecken der Theaterwelt mit großem Misstrauen | |
begegnet wurde, und der danach folgenden Interimsleitung von Klaus Dörr, | |
die mit [4][dessen Rücktritt] wegen Sexismusvorwürfen endete. | |
## Geist der Castorf-Zeit | |
Mit René Pollesch als neuem Leiter entschied sich der Berliner | |
Kultursenator Klaus Lederer im Juni 2019 für den Kandidaten, der die | |
Gemüter beruhigte, ein Anknüpfen an den Geist der Castorf-Zeit, das | |
gemeinsame Erfinden und das Zulassen von vielen anarchistischen Momenten | |
versprach. | |
So hat die Inszenierung von „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein | |
Leben dazwischen“ viel von einer Heimkehr. Dazu gehört auch, dass für den | |
titelgebenden Vorhang, der im Übrigen oft horizontal über der Bühne | |
schwebt, wie ein Baldachin, der junge Bühnenbildner Leonard Neumann | |
verantwortlich ist, Sohn von Bert Neumann, der bis zu seinem Tod den | |
Auftritt des Hauses, den Look des Offenen und Abgenutzten und zufällig | |
Gefundenem prägte. | |
Der Text, von Pollesch mit den Spielenden entwickelt, folgt den Sprüngen | |
und Abirrungen der Gedanken, die sich oft, aber nicht nur, um das Framing | |
des Theaters drehen, den Anfang und Ende, den ein Vorhang markiert, die | |
nicht einzulösende Erwartung an das Überwältigende einer Tragödie und | |
inwiefern das, was mutmaßlich in den Köpfen der Zuschauer vorgeht, die | |
Spielenden davon abbringt, bei sich selbst zu bleiben. | |
## Alberne Parodien | |
Es ist nicht das erste der gut 50 Stücke von René Pollesch, in dem das | |
Theater über sich selbst nachdenkt. 2018 etwa in „Cry Baby“, mit Sophie | |
Rois und Bernd Moss und vielen ehemaligen Volksbühnen-Schauspielerinnen am | |
Deutschen Theater in Berlin: Da ging es um den Schein und wer warum was | |
eigentlich bezahlt. | |
Ein Höhepunkt waren die Rededuelle zwischen Sophie Rois und Bernd Moss | |
darum, ob ein Theater mehr wert sei, in dem die Zuschauer bezahlen, oder | |
eines, in dem der Künstler für seinen Auftritt bezahlt, und ob das nicht | |
das wahre Liebhabertheater sei. | |
Die Szenen werden mit viel Witz und albernen Parodien eines vermeintlich | |
ganz anderen Theaterbetriebs der Repräsentation, der so allerdings, wie ihn | |
Pollesch als stetes Feindbild aufbaut, auch nur noch eingeschränkt | |
existiert, vorgetragen; wie weit sie noch an andere Diskurse andocken, | |
verschiebt sich von Stück zu Stück. Etwas mager bleibt, was an Denknahrung | |
so hängen bleibt. | |
## Wie es weitergeht | |
Die Inszenierung ist lustig, aber gemessen an dem, was dieses Haus, das | |
sich die Überforderung des Zuschauers lange auf seine Fahnen geschrieben | |
hatte, und gemessen auch an dem, was René Pollesch hier schon an Gedanken | |
bewegt hat, auch eine Unterforderung. | |
Wie es weitergeht? Es wäre zu viel, das aus dieser einen Inszenierung | |
herauslesen zu wollen. Zurzeit sucht die Volksbühne Zuschauer:innen, die | |
sich hypnotisieren lassen wollen, für die nächste Premiere am 23. | |
September, „A Divine Comedy“ von der österreichischen Choreografin | |
Florentina Holzinger, die bei der [5][Ruhrtriennale uraufgeführt] wurde. | |
Eine Inszenierung, die den Blick auf den nackten und verletzlichen Körper | |
verhandelt, dabei aber auch vor Oberflächlichkeiten und Kalauern nicht | |
zurückscheut. | |
Die Volksbühne will, das versteht sie auch als ihren kulturpolitischen | |
Auftrag, weiblicher, queerer und intersektionaler als in der Vergangenheit | |
werden. Darin unterstützen René Pollesch auch neu eingesetze | |
Kurator:innen, wie Marlene Engel für die Musik oder Vanessa Unzalu | |
Troya, die das Jugendtheater der Volksbühne, P 14, seit vielen Jahren | |
leitet. | |
17 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Streit-um-Gedicht-an-Hochschulfassade/!5476081 | |
[2] /Melissa-kriegt-alles-von-Rene-Pollesch/!5710614 | |
[3] /Dercons-Abtritt-von-der-Volksbuehne/!5498414 | |
[4] /MeToo-an-der-Berliner-Volksbuehne/!5758018 | |
[5] /Ruhtriennale-unter-neuer-Intendanz/!5791297 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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